von Paula Küppers
Stell dir folgende Situation vor: Du sitzt ruhig in deinem Garten, trinkst eine Limo und denkst an nichts Böses. Auf einmal hörst du ein lautes Krachen, drehst dich um und siehst, dass ein Auto in deinen Zaun gefahren ist. Du zitterst am ganzen Leib und bist so erschrocken, dass die Polizei, die inzwischen gerufen wurde, fast eine Stunde braucht, um dich zu beruhigen. Das Auto ist von der Straße abgekommen und es war großes Glück, dass in deinem Garten nicht viel kaputt gegangen ist und niemand verletzt wurde.
Nun stell dir vor, deiner Freundin passiert zufällig ein ähnlicher Unfall; euch beiden geht es körperlich gut, ihr seid aber sehr aufgewühlt. Der einzige Unterschied: Dein Zaun ist kaputt, deine Freundin hat dagegen gar keinen materiellen Schaden erlitten. In beiden Fällen möchte ein unabhängiger Bekannter zwischen dem Opfer und dem Autofahrer vermitteln, sodass der Fall nicht vor Gericht kommt. Was meinst du, was wird der Bekannte entscheiden? Wer von euch beiden wird mehr Entschädigungsgeld bekommen? Deine Freundin, oder du?
Wahrscheinlich denkst du jetzt: „Ganz klar, ich bekomme mehr Geld, denn ich habe ja zusätzlich zu dem Schreck auch noch die Kosten für den Zaun, für die ich entschädigt werden muss.“ Das dachte ich auch, bevor ich diese Studie gelesen habe. Tatsächlich ist es nämlich genau andersrum: Der durchschnittliche Laie (das heißt, jemand, der kein Jurist ist und sich nicht genau mit der Rechtslage zum Thema Schadensersatz auskennt) würde deiner Freundin mehr Entschädigungsgeld geben! Bitte was?!
Die Forscher in der Studie stellten Probanden die Aufgabe, zu entscheiden, wie viel Entschädigungsgeld Menschen für einen Unfall bekommen sollten. In den Szenarios, die die Forscher sich ausdachten, ging es den Menschen körperlich gut, aber alle erlitten einen emotionalen Schaden, wie einen Schock oder Albträume. Manche hatten zusätzlich dazu dann auch noch einen materiellen Schaden (wie oben der Zaun). Das Ergebnis: Probanden gaben durchschnittlich der Person, die NUR den emotionalen Schaden erlitten hat, mehr Geld als der Person, die einen materiellen UND einen emotionalen Schaden von dem Unfall davongetragen hat.
Warum ist das so? Dazu muss man erst einmal eine Einschränkung der Studie wissen: Der Effekt trat nur auf, wenn der materielle Schaden klein war, das heißt, wenn die Person nicht mehr als 50 Dollar verloren hat. Das war in den Szenarios zum Beispiel eine kaputte Uhr, ein zerbrochenes Parfüm oder eine Hose, die in die Reinigung gebracht werden musste. Bei großem materiellen Schaden, also wenn statt dem Gartenzaun das ganze Haus kaputt gegangen ist, gab es den Effekt nicht.
Als nächstes muss man wissen, was der Ankereffekt ist. Vielleicht hast du ja schon einmal davon gehört, denn er ist relativ bekannt und sein Entdecker hat sogar einen Nobelpreis bekommen. Er zeigt sich im Alltag oft beim Einkaufen, doch das wird Thema eines anderen Blogartikels sein. Wir brauchen jetzt nur eine bestimmte Form des Ankereffekts: Die Anpassungsheuristik. Die funktioniert so:
Wenn Menschen eine unbekannte Größe schätzen müssen, nehmen sie als Startpunkt ganz automatisch den ersten Wert, der ihnen vor die Nase kommt. Ein Beispiel: Wenn ich dich frage, wie die durchschnittliche Temperatur am Nordpol ist, wirst du das wahrscheinlich nicht genau wissen. Das ist der unbekannte Wert, den du schätzen musst. Du hast vielleicht schon im Kopf, dass es am Nordpol ziemlich kalt ist, aber eine genaue Zahl weißt du nicht. Wenn ich dir jetzt ganz unabhängig davon die Zahl „87“ nenne, nimmt dein Gehirn diese Zahl automatisch als Startpunkt. Deine Schätzung für die Durchschnittstemperatur fällt dann höher aus, als wenn ich dir die Zahl „- 60“ gesagt hätte. Und das, obwohl du wahrscheinlich weißt, dass es am Nordpol weder durchschnittlich 87, noch - 60 Grad sind.
Dein Gehirn vergleicht automatisch die „random“ Zahl mit deinen Überlegungen, sodass die 87 deinen Schätzungswert nach oben, die - 60 ihn nach unten zieht. Deshalb nennt man diese unabhängig präsentierten Zahlen Ankerwerte. Im Alltag kannst du den Effekt zum Beispiel beim Verhandeln anwenden: Wenn du eine Tasche verkaufen willst, und einem potentiellen Käufer sagst: „Ich glaube, die ist noch 50 Euro wert“, wird er sein Gegenangebot eher höher ansetzen, weil die 50 als Anker wirkt. Okay, so viel dazu! Aber was hat das Ganze mit Schadensersatz zu tun?
Die Autoren der Studie erklären, dass es für Menschen schwierig ist, Emotionen einen Geldwert zuzuschreiben. „Wie viel kostet deine Trauer?“ ist ja auch eine schwer zu beantwortende Frage. Deshalb muss man den Wert der Emotion schätzen. Und genau da kommt der Ankereffekt ins Spiel: Der kleine materielle Schaden, wie der Gartenzaun für 50 Euro, wirkt als Anker und zieht den Schätzwert nach unten. Die Menschen orientieren sich an dem kleinen Wert. Wenn aber gar kein materieller Schaden entstanden ist, haben sie auch keine Zahl, an dem sie sich orientieren können. Deshalb schätzen sie den Wert für den emotionalen Schaden höher ein.
Denselben Effekt findet man übrigens auch bei körperlichem Schaden- wenn man sich ein Bein bricht und zusätzlich 20 Euro verliert, fällt der Schadensersatz kleiner aus, als wenn man sich nur das Bein gebrochen hätte. Das habe ich selbst mal mit einer Studie herausgefunden, die wir in der Uni machen mussten (#humblebrag).
Für alle, denen die Erklärung jetzt zu lang war: Deine Freundin kriegt mehr Schadensersatz für ihren Schock als du für den Schock + Zaun, weil Menschen schlecht einschätzen können, wie viel ein Schock kostet. Deshalb orientieren sie sich an dem Wert des Zaunes, und das zieht ihre Schätzung nach unten. Also: Solltest du irgendwann einmal in eine Situation kommen, in der du Entschädigungsgeld willst, verschweig besser, wenn du einen kleinen materiellen Schaden hattest!
Wenn euch der Beitrag gefallen hat, oder wenn ihr Kritik habt, schreibt es uns gerne auf unserem Instagram-Kanal. Wir freuen uns über Feedback! Wenn ihr mehr über den Ankereffekt hören wollt oder Interesse an Wissenswertem über Psychologie, das menschliche Gehirn und seine Erkrankungen habt, könnt ihr auch gerne den Newsletter abonnieren. Bis dahin: Stay safe und lasst euch nicht bei Schadensersatzzahlungen über den Tisch ziehen…
تعليقات