von Nele Franzen
Ich glaube, ich fahre richtig mit der Annahme, dass jeder von uns zumindest einmal schon von AD(H)S oder der Aufmerksamkeitsdefizitstörung* mit/ohne Hyperaktivität gehört hat. Dennoch glaube ich, dass die meisten nicht wissen, was sich hinter dieser Krankheit verbirgt. Eines der größten Vorurteile über Betroffene von AD(H)S ist, dass Betoffene einen Mangel an Aufmerksamkeit haben (Deshalb auch das Defizit) und durch ihrer “hibbelige und unkonzentrierte Art“ mehr Aufmerksamkeit bekommen wollen. Jeder Betroffene hat die Aussage: “Ach, der will doch nur Aufmerksamkeit haben“ schon einmal gehört. Laut Laien entsteht AD(H)S durch schlechte Erziehung und zu viele Süßigkeiten. Außerdem heilt Ritalin AD(H)S. Surprise - das stimmt nicht und hat rein gar nichts mit dem Krankheitsbild von AD(H)S zutun. Obwohl die, die sich schon intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt haben, jetzt am liebstem die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden, halten sich diese Vorurteile leider ziemlich hartnäckig in unserer Gesellschaft.
Was ist ADHS?
AD(H)S gehört zu den neurologischen Entwicklungsstörungen. Krankheiten, die unter diese Kategorie fallen, manifestieren sich meist in der frühen Entwicklung eines Kindes und werden durch Defizite in der Entwicklung charakterisiert. Die Bandbreite an Defiziten reicht von spezifischen Einschränkungen in Bereichen des Lernens oder der exekutiven Kontrolle bis zu globalen Defiziten der sozialen Fähigkeiten oder der Intelligenz.
AD(H)S wird durch ein Defizit an Aufmerksamkeit und Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet. Ein Defizit an Aufmerksamkeit bedeutet nicht, dass der Betroffene bisher in seinem Leben zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat (wie es leider oft falsch abgeleitet wird) sondern, dass der Betroffene große Schwierigkeiten hat, seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aufgabe oder Aktivität zu lenken. Das Aufmerksamkeitsdefizit äußert sich oft dadurch, dass Betroffene in Bereichen wie z.B. der Schule Schwierigkeiten haben, Aufgaben korrekt und detailliert zu bearbeiten. Sie übersehen beispielsweise Fehler oder die Ausführung der Aufgabe ist ungenau. Betroffene können oft ihr Aufmerksamkeit nicht lange auf eine konkrete Sachen halten, beispielsweise haben sie Schwierigkeiten, ihre Konzentration während einer Vorlesung oder einer Konversation aufrecht zu halten oder sich zu fokussieren.
Oft leiden Betroffene darunter, ständig mit ihren Gedanken abzuschweifen, obwohl es keine bestimmten Ablenkung gibt, sie sind dann so “gefangen” in ihren Gedanken, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht wieder auf ihre Aufgabe etc. richten können. Betroffene leiden meist unter Problemen im Bereich des Zeitmanagements und der Organisation bestimmter Aufgaben und Aktivitäten. Dadurch vermeiden Betroffene oft Aufgaben die diese Fähigkeiten oder viel mentalen Aufwand erfordern. Es ist nicht so, wie viele leider annehmen, dass Betroffene sich einfach keine Mühe geben, bestimmte Aufgaben zu erledigen und dies schon schaffen würden wenn sie sich einfach ”nur” anstrengen sondern, dass Betroffene die Aufgaben wirklich nicht “einfach” schaffen.
Ich glaube, dass man sich das vorstellen muss wie ein Sieb, bei dem viele Informationen durchrasseln, selbst wenn sich das Sieb anstrengen würde, würden die Informationen trotzdem durchrasseln eben nicht weil um zu wenig Anstrengung geht, sondern es sich um ein Aufmerksamkeitsdefizit handelt.
Neben dem Aufmerksamkeitsdefizit wird AD(H)S auch durch Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet. Diese äußern sich in dem, was oft negativ als “Zappelphilipp” beschrieben wird. Betroffene verspüren oft den Drang, sich zu bewegen, was sich in Zappeln oder Wippen äußert. Durch den Bewegungsdrang stehen Betroffene oft in unangebrachten Situationen auf, beispielsweise im Klassenraum. Im Erwachsenenalter äußert sich der Bewegungsdrang häufig als Unruhe und Unausgeglichenheit.
Die Hyperaktivität und Impulsivität äußern sich nicht nur durch den Bewegungsdrang, sondern auch in der Sprache. Betroffene sprechen häufig viel, beenden die Sätze anderer, können nicht abwarten, ihren Satz zu sprechen oder unterbrechen ihre Gesprächspartner. Dies wird oft als unhöflich aufgefasst - dabei ist dies ein Symptom der Hyperaktivität. Solltet ihr also jemandem in eurem Bekanntenkreis haben, der unter AD(H)S leidet, dann nehmt es nicht persönlich, solltet ihr mal unterbrochen werden.
Auch wenn AD(H)S oft im Kindesalter diagnostiziert wird und als Kinderkrankheit angesehen wird, wird AD(H)S häufig auch erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Das Erscheinungsbild ist hier manchmal anders als bei Kindern, und kann deshalb schwieriger zu diagnostizieren sein. Erwachsenen leiden oft unter Stimmungsschwankungen, Unruhe, Ungeduld, Konzentrationsschwierigkeiten oder Schwierigkeiten, Beziehungen aufrecht zu erhalten. Oft ähneln die auftretenden Symptome anderen Krankheitsbildern, was es aber nicht weniger valide macht.
AD(H)S wird mittlerweile als Sammelbegriff für die verschiedenen Erscheinungsbilder genannt. Es gibt das vorwiegend hyperaktiv-impulsive Erscheinungsbild, bei dem Unaufmerksamkeit und Desorganisation im Alltag eher unproblematisch sind. Des weiteren gibt es das vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsbild, bei dem die Unaufmerksamkeit im Vordergrund steht. Als drittes Erscheinungsbild gibt es die kombinierte Form, bei der alle drei Kernsymptome relativ gleichmäßig ausgeprägt sind.
Während meiner Recherche zu AD(H)S bin ich auf verschiedenste Begriffe gestoßen. Mir war vorher absolut nicht bewusst, wie viele Namen AD(H)S im Laufe seiner Geschichte schon bekleiden durfte. Darunter fallen Hirnfunktionsstörung, hyperkinetisches Syndrom/Störung, Minimale zelebrale Dysfunktion (MzD), Psychoorganisches Syndrom (PSO), oder die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS). Mittlerweile hat sich der Begriff AD(H)S etabliert.
Seit der neusten Auflage des DSMs (DSM-5) wird nicht mehr von den verschiedene Subtypen von AD(H)S gesprochen, sondern von den verschiedenen Erscheinungsbildern. Außerdem zählt AD(H)S auch erst seit der aktuellen Ausgabe zu den neurologischen Entwicklungsstörungen. Früher wurde AD(H)S oft als Verhaltensstörung deklariert.
Fun fact: Der Zappelphilipp ist eine Figur aus dem Kinderbuch “Struwwelpeter” von Heinrich Hofmann aus dem Jahr 1945. Irrtümlicherweise ging Hofmann nach Veröffentlichung als der Entdecker und Erstbeschreiber von AD(H)S in dje Geschichte ein. Er soll durch die Figur des Zappelphilipps auf die Krankheit aufmerksam gemacht haben wollen - was eigentlich gar nicht stimmt. Tatsächlich hat er einfach vergeblich nach einem Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn gesucht und deshalb ein Notizbuch gekauft, in das er Zeichnungen und Reime schrieb.
Ursachen von AD(H)S:
Die Ursachen von AD(H)S sind bisher nicht vollständig geklärt. Zum einen soll eine genetische Komponente für die Entwicklung von AD(H)S verantwortlich sein. Bisher konnte herausgefunden werden, dass AD(H)S vererbbar ist. Aus Zwillingsstudien ist hervorgegangen, dass bei eineiigen Zwillingen in 60-80% der Fälle beide Zwillinge betroffen sind. Angehörige ersten Grades (Vater, Mutter, Kind) haben eine drei- bis fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit, ebenfalls betroffen zu sein. Auch Umwelteinflüsse wie Frühgeburten, Geburtskomplikationen und Drogenkonsum während der Schwangerschaft können die Entwicklung von AD(H)S begünstigen.
Viele Forscher gehen heute davon aus, dass Betroffene Funktionsstörung bestimmter Regelkreise im Gehirn haben, die zu einem Ungleichgewicht bestimmter Neurotransmitter führen. Die betreffenden Hirnareale sind für Motivation, Emotion und Kognition und Bewegungsverhalten verantwortlich. Die bei AD(H)S damit verbundenen Neurotransmitter sind vor allem Dopamin und Noradrenalin. In den bestimmten Gehirnregionen kann ein Mangel von Dopamin festgestellt werden.
Ganz interessant: ein ehemaliger Patient von der forensischen Station, auf der ich gearbeitet habe, war neben der Abhängigkeit von Cannabis und Amphetaminen auch mit AD(H)S diagnostiziert. Für die, die es nicht wissen: für den Großteil der Bevölkerung wirkt Cannabis bei Konsumenten eher beruhigend und Amphetamine eher aufputschend. Bei dem Patienten war es genau andersherum: er konnte nur zur Ruhe kommen, sich konzentrieren und seinen Hobbies wie Kunst nachgehen, wenn er vorher Amphetamine konsumiert hatte. Er nutzte Amphetamine als Selbstmedikation - da Amphetamine indirekt die Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin bewirken, und er somit seine Konzentrationsschwierigkeiten bewältigen konnte.
Das Traurige daran ist, dass viele Menschen zu Drogenkonsum greifen, weil das soziale Umfeld ihnen nicht genug Ernsthaftigkeit entgegen bringt oder das Stigma dazu führt, das Betroffene sich erst gar keine Hilfe suchen. Bis zu 30% der Betroffenen leiden unter einer Abhängigkeit, weil sie versuchen, sich durch Drogen zu substituieren. Früher wurden Amphetamine sogar zur Behandlung von AD(H)S genutzt, aufgrund des hohen Suchtpotential sind sie heute aber nicht mehr zugelassen.
Wohingegen die Rolle von Neurotransmitter faktisch gesichert ist, werden andere Zusammenhänge noch untersucht - welche Rolle Umweltfaktoren spielen, ob da ein kausaler Zusammenhang besteht oder diese die Entwicklung nur begünstigen ist bisher unklar.
Wie schon in der Einleitung beschrieben, gehen viele Laien davon aus, dass AD(H)S durch schlechte Entziehung entsteht. Dies ist faktisch falsch. In jeder Familie kommt es zu Probleme in der Erziehung und zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, aber trotzdem ist nicht jeder von AD(H)S betroffen. Vielmehr entstehen familiäre Probleme erst dadurch, dass ein Familienmitglied AD(H)S hat und vielleicht nicht ricktig diagnostiziert wurde, die anderen also nicht wissen, wie man damit umgehen muss. So wird die Problematik durch die Erziehungsprobleme vielleicht verstärkt ist, aber keine Ursache von AD(H)S.
Therapiemöglichkeiten:
Zu den Therapiemöglichkeiten von AD(H)S gehören Psychoedukation, Psychotherapie und eine medikamentöse Therapie.
Während der Psychotherapie versucht der Patient, problematische Verhaltensweisen zu erkennen, Strategien für einen erfolgreichen Umgang mit den Symptomen zu entwickeln, Belastende Denkmuster abzubauen und positive Eigenschaften zu erkennen und zu stärken. Die Wirksamkeit von Psychotherapie ist bei AD(H)S ist wissenschaftlich nachgewiesen.
Zur medikamentösen Behandlung werden Medikamente eingesetzt, die die Konzentration und Wirkungsdauer von Dopamin und Noradrenalin im
Gehirn verstärken. Dazu zählen Medikamente mit den Inhaltsstoffen Methylphenidat und Atomoxetin. Eine medikamentöse Behandlung wird oft eingesetzt, wenn Betroffene den Leidensdruck als sehr stark empfinden. Häufig wird eine medikamentöse Therapie mit einer Psychotherapie kombiniert.
Schlusswort
Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass AD(H)S eine andere Art zu Sein ist. Diese ist nicht besser oder schlechter, das Gehirn arbeitet nicht besser oder schlechter - aber eben anders. Das ist völlig ok, aber wichtig zu verstehen.
Während meiner Recherche durfte ich lernen, dass Betroffene beispielsweise zu einer Art Hyperfokus imstande sind: in Aktivitäten, die sie besonders interessieren, gehen sie förmlich auf und befinden sich in einer Art Flow, die eine mühelose Konzentration ermöglicht und sie die Welt um sich herum vergessen lässt. Ich glaube, unsere Gesellschaft muss dahin kommen, dass solche Fähigkeiten bewusst gefördert werden und individuell darauf eingegangen wird, damit Betroffene sich diese Fähigkeiten eben zu nutzen machen können und nicht weiterhin gegen das Stigma kämpfen müssen.
Quellen:
- DSM-5
- https://www.adhs-ratgeber.com/adhs-medikamente.html
- https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-062007/sucht-als-selbstmedikation/
- https://flexikon-mobile.doccheck.com/de/Amphetamin
- https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend-psychiatrie/erkrankungen/aufmerksamkeitsdefizit-hyperaktivitaets-stoerung-adhs/ursachen/
- https://adhs-muenchen.net/adhs-bei-erwachsenen/besonderheiten-des-adhs-gehirns/
- https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/ADHSLang.pdf
- http://adapt.at/dsm-v/
- https://www.aerzteblatt.de/archiv/40288/Zappelphilipp-und-ADHS-Von-der-Unart-zur-Krankheit
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