von Nele Franzen
Worum geht es in "To the bone"?
In "To the Bone" geht es um Ellen. Ellen (von Lilly Collins gespielt) ist 20 Jahre alt und leidet seit mehreren Jahren an Anorexie. Sie befand sich schon mehrfach in therapeutischer Behandlung ohne Erfolg, so auch zu Beginn des Films. Ellen verlässt ihren letzten stationären Aufenthalt und zieht wieder bei ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und ihrer Stiefschwester ein. Ihre leibliche Mutter zog mit ihrer neuen Frau weg. Schon zu beginn des Filmes wird klar, dass Ellen kein besonders gutes Verhältnis zu ihrem Vater hat (das ändert sich auch nicht im Laufe des Filmes, da ihr Vater nicht einmal zu sehen ist). Ihre Schwester scheint die Einzige zu sein, die "normal" mit ihr umgeht. Ihr Stiefmutter, die zwar besorgt wirkt, aber nicht recht weiß wie sie mit ihr umgehen soll, sucht einen neuen Arzt auf, Dr. Beckham (Keanu Reeves). Dieser verfolgt einen eher unkonventionellen und ungewöhnlichen Therapieansatz. Deshalb zieht Ellen in eine Wohngemeinschaft für Essgestörte Jugendliche. Dort lebt sie mit sechs weiteren Jugendlichen zusammen die unter Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa oder einer Binge-eating Störung leiden.
Falls du den Film noch nicht geschaut hast, empfehle ich dir an dieser Stelle, den Film zu schauen, bevor du dir meine Kritik durchliest, damit du dir eine Meinung bilden kannst.
Wird Anorexia Nervosa faktisch richtig dargestellt?
Gehen wir mal zusammen die Kriterien durch, die ich im letzten Beitrag zusammengefasst habe. Betroffene verweigern vehement die Nahrungsaufnahme, leiden unter massivem Untergewicht, leiden unter intensive Angst vor Gewichtszunahme, führen Handlungen aus, welche die Kalorienzufuhr minimieren und haben ein verzerrte Körperwahrnehmung. Erfüllt Ellen diese Kriterien? Die Antwort ist: definitiv. Als Ellen zurück in das Haus ihres Vaters zieht, vergeht nicht viel Zeit, bis sie auf dem Boden ihren neuen Zimmers sit-ups macht. Auch im weiteren Verlauf wird deutlich, dass Ellen immer, wenn sie das Gefühl hat, zu viele Kalorien zu sich genommen zu haben, sit-ups macht oder die Treppen hoch und runter läuft. Um möglichst viele Kalorien zu verbrennen geht Ellen lieber über all zu Fuß hin oder joggt die Strecke. Somit führt Ellen Handlungen aus, welche die Kalorienzufuhr minimieren.
Schon in den ersten 10 Minuten des Film wird man mit Ellen´s erster Mahlzeit konfrontiert, welche sie kaum anrührt. Ellen nimmt immer nur das mindeste an Nahrung zu sich, den Rest verweigert sie. Somit ist auch dieses Kriterium erfüllt. Dass Ellen untergewichtig ist, wird auch beim ersten Anblick klar, spätestens aber bei ihrem ersten Artbesuch bei Dr. Beckham wird deutlich, dass sie massiv untergewichtig ist. Ihre Wirbelsäule zeichnet sich ganz deutlich ab und an ihr sind blaue Flecken aufgrund der exzessiven sit-ups zu sehen. Bei der wöchentlichen Gewichtskontrolle in der WG wird klar, dass Ellen Angst vor der Zahl auf der Waage und somit Angst vor der Gewichtszunahme hat. Die verzerrte Körperwahrnehmung lässt sich Anfang nur erahnen, aber im Laufe des Filmes wird klar, dass Ellen eine verzerrte Körperwahrnehmung hat. Ellen leidet aber nicht nur unter den Kriterien, die man haben muss um mit Anorexie diagnostiziert zu werden. Bei Ellens Arztbesucht sieht man, dass Ellen unter starker Behaarung an manchen Stellen ihrer Körper leidet. Diese Lanugobehaarung tritt auf, wenn der Körper sich warm halten möchte. Ellen ist außerdem sehr zögerlich, was körperlichen Kontakt betrifft, sie sucht nicht aktiv nach Berührungen bei ihrer Familie, lässt es aber zu wenn ihre Familie sie umarmen möchte. Als Luk Ellen dann küsst, ist das wie ein Wendepunkt, da sie die körperliche Nähe ablehnt. Der Film stellt die Krankheit also faktisch richtig da, deshalb werde ich in meiner Kritik nicht weiter auf die reinen Symptomen eingehen.
Meine persönliche Meinung zu "To the Bone"
Der folgende Abschnitt entspricht lediglich meiner Meinung und hat kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit, dass jemand also folgendes anders sieht als ich, ist völlig in Ordnung. Meiner Meinung nach kann man im Laufe des gesamten Filmes spüren, dass das Drehbuch von der Autorin und Regisseurin Marti Noxon auf eigenen Erfahrungen basiert. Jemand, der es schafft, auf eine so ehrliche aber subtile Art und Weise ein so schwieriges Thema wie eine Essstörung zu zeigen, kann dies nicht, ohne selbst ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Der Film schafft es, dass Szenen zugleich schockierend, aber auch humorvoll seinen können. Ein Bespiel: Luk und Ellen gehen zusammen Essen und Ellen verweigert die Nahrungszufuhr, in dem sie das Essen nach kurzem Kauen in eine Serviette spuckt. Die Szene hat eine deutliche Botschaft: Zu vermitteln, wie Ellen ihre Nahrung verweigert, und dass das eine Symptom ihrer Krankheit ist, aber muss sie dabei immer weinen oder traurig sein? Oder darf sie auch einfach mal losgebunden von ihrer Krankheit Spaß haben, selbst wenn als Außenstehender klar wird, dass ihr Handeln ein Symptom ihrer Krankheit ist. Ich finde schon.
Und da wären wir schon direkt bei meinem nächsten Punkt. Bevor ich anfing zu schreiben, wollte ich mich auch noch mit anderen Kritiken auseinandersetzen um mich richtig vorzubereiten. Währenddessen ist mir besonders ein Punkt immer wieder aufgefallen, der mich jedes mal ein bisschen wütender gemacht hat. Und zwar Kritiken wie: "Der Film war nicht dramatisch genug", "Die Krankheit wurde nicht dramatisch genug dargestellt", "Ich hatte mir gewünscht, dass Ellen am Ende stirbt" oder "der Film war langweilig, keine richtige Handlung". Genau das spiegelt ein riesiges Problem in unserer Gesellschaft wider. Wenn Betroffene nicht mindestens kurz vor dem Tod sind, man ihnen ansieht, dass sie totunglücklich sind, oder nicht wenigstens schon drei Selbstmordversuche hinter sich hatten, wird einem die psychische Krankheit einfach abgesprochen. Ein Film, der zuallererst zur Aufklärung dienen soll, wird als langweilig empfunden, weil er die Zuschauer nicht mit einem Tod am Ende überzeugt. Warum muss ein Film immer der Unterhaltung dienen? Ich finde, gerade die subtile und humorvolle Art und Weise, ein so ernstes Thema zu behandeln, richtig. Durch Ellens schlagfertige und harte Art wird die Krankheit nicht heruntergespielt sondern gezeigt, dass Ellen nicht "nur" ihre Krankheit ist sondern ein Individuum, das trotz Krankheit ein Recht auf einen vielschichtigen Charakter und eine gefestigte Meinung hat. Der Film gibt Ellen den Freiraum, mehr als nur ihre Symptome zu sein.
Ich habe das Gefühl, dass Andere von psychisch Kranken erwarten, dass sie so handeln, wie sie denken dass ein beispielsweise depressiver handeln würde. Lacht jemand, der eine Depression hat, wird gesagt: "der kann nicht depressiv sein, der hat schließlich auch Spaß". Genauso bei "To the Bone", dass Ellen nicht völlig zusammenbricht und trotz ihrer Krankheit schlagfertig ist, scheint manche zu irritieren, da es ja dann "nicht so schlimm sein kann". Bevor der Film veröffentlicht wurde, hagelte es schon viel Kritik, dass er vielleicht ähnlich wie "13 Reasons why" romantisierend wirken könnte. Wählt ein Film aber genau den anderen Weg, ist das für den Zuschauer auch nicht gut genug.
In ihrer Kritik zu Split hat Paula erwähnt, dass sie sich wünscht, dass psychische Krankheiten auch in anderen Genres außer Horror gezeigt werden. Ich finde, "To the Bone" schafft es, dass der Film zwar über die Krankheit aufklärt, aber sie an manchen Stellen schon fast in den Hintergrund rückt, weil es in Ellens Leben auch um andere Dinge geht wie, Liebe, Kunst oder Freundschaft. Ja, in Gewissermaßen bestimmt die Krankheit ihr Leben, weil sie in einer Wohngemeinschaft für Essgestörte lebt, aber es bestimmt nicht wer Ellen ist. Genau den Punkt mag ich sehr an dem Film.
Des weiteren finde ich, dass Lilly Collins auf eine ganz grandiose Weise Ellen verkörpert, dadurch das Lilly Collins selbst unter Anorexie litt hat die Regisseurin Lilly viel Raum für ihre eigene Interpretation gelassen. Ich finde, dass das dadurch deutlich wird, dass nicht viel schnick schnack um ihre Figur gemacht wird, Lilly spielt einfach und das kommt von Anfang bis Ende sehr authentisch rüber. Ein weiterer positiver Aspekt, der mir aufgefallen ist, ist, dass der Film darauf aufmerksam macht, dass eine Essstörung in allen Gewichtsklassen vorkommen kann. Luk beispielsweise hat Magersucht und man erfährt, dass er mit 40 kg in die WG eingezogen ist, mittlerweile wiegt Luk um die 56 kg und ist zwar dünn, sieht aber nicht abgemagert aus, das zeigt, dass der Betroffene nicht einfach geheilt ist sobald er genug wiegt. Des weiteren, finde ich es gut, dass der Zuschauer nie mit Ellens Gewicht konfrontiert wird, damit verstärkt die Regisseurin den Punkt das Magersucht eben nicht nur auf der Waage stattfindet.
Es gibt aber natürlich auch Szenen, die mir nicht so gut gefallen haben. Generell finde ich das nicht schlimm, wenn ein Therapeut einen unkonventionellen Ansatz der Therapie wählt, ich finde dass Dr. Beckham ein näheres Verhältnis zu seinen Patienten pflegt als andere Therapeuten. Damit habe ich aber kein Problem. Womit ich aber ein Problem habe ist, dass Dr. Beckham in einer Szene sagt, Ellen solle sich einfach zusammenreißen, das ist nicht der genaue Wortlaut, den er wählt, aber Ellen interpretiert es so und er stellt es nicht richtig. Ich denke, kein Therapeut, der von sich behauptet, ein guter Therapeut zu sein, würde zu seinem Patienten sagen, dass er sich zusammen reißen soll. Das ist ein Satz, der nicht nur die Gefühle des Patienten herunterspielt, sondern auch ein Satz, gegen den alle kämpfen, die das Stigma von psychischen Krankheiten minimieren wollen.
Des weiteren finde ich es schade, dass man nicht so viel Einblick in die Therapie von Ellen bekommt, deshalb tu ich mich ein bisschen schwer was das Ende betrifft. Ellen wird schon recht früh mit der Frage konfrontiert, ob sie Leben möchte oder nicht. Diese Frage zieht sich durch den ganzen Film. Ich finde es deshalb schwierig zu glauben, dass eine "außerkörperliche" Erfahrung, die ihr zeigt, dass das Leben lebenswert ist der Knackpunkt ist. Ich habe während meiner Recherche oft gelesen, dass die Szene mit Ellen und ihrer Mutter, als diese Ellen füttert als "lächerlich" betitelt wurde, das sehe ich überhaupt nicht so aber ich hätte mir gewünscht dass diese Szene Ellens Knackpunkt gewesen wäre und nicht, dass sie ihren abgemagerten Körper von außen betrachtet und dadurch erkennt, dass sie leben möchte. Aber das ist wirklich nur mein persönliches Empfinden, dieser Punkt lenkt meiner Meinung nach auch nicht von den sonst sehr guten Darstellung der Krankheit ab.
Alles in allem finde ich "To the Bone" ein sehr gelungenes Werk. Ich finde es wurde auf eine sehr feinfühlige Art und Weise ein sehr sensibles Thema dargestellt. Dadurch wirken sehr aussagekräftige Szenen nie reißerisch oder verstörend. Menschen, die aber nur der Unterhaltung wegen "To the Bone" gucken, sind meiner Meinung nach an der falschen Adresse. Natürlich darf ein Film über psychische Krankheiten auch unterhaltend sein, aber der Zuschauer sollte nicht den Anspruch haben, dass er "nur" unterhaltend ist. Mit "To the Bone" konnte bewiesen werden, dass ein Film keine übernatürlichen Kräfte, keine special effects und nicht viel Drama braucht, um über eine Krankheit zu sprechen. Ich gibt sicherlich mehr Punkte die betrachtet werden können, ich habe mich aber jetzt auf die Punkte bezogen die mir am wichtigsten waren. Ich würde "To the Bone" empfehlen für jeden der ein realistisches Bild von der Krankheit bekommen möchte.
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