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Warum wir alle WEIRD sind

Aktualisiert: 14. Juni 2021

von Paula Küppers


Schaut euch mal die beiden Linien hier an.



Was denkt ihr, welche ist länger?


Für viele sieht die untere Linie bestimmt länger aus. Aber wahrscheinlich werden die meisten von euch sich auch schon gedacht haben, dass es sich bei dem Bild um eine optische Täuschung handelt - eigentlich sind beide Linien gleich lang. Die Täuschung heißt Müller-Lyer-Illusion, wurde 1889 von einem deutschen Soziologen entdeckt und seitdem an vielen Probanden getestet. Menschen unterschätzen konstant die Länge der oberen Linie. Für den Effekt gibt es viele verschiedene Erklärungen, die alle mehr oder weniger mit Hirnfunktionen oder der Hirn-Auge-Koordination zu tun haben. Sogar Papageien und Tauben nehmen die Illusion war - man könnte meinen, es sei universell, zu denken, die eine Linie sei kürzer.


Umso größer war daher die Überraschung der Psychologen, die 1963 mit der Müller-Lyer-Täuschung im Gepäck eine Reise nach Namibia unternahmen. Für Menschen aus den San-Völkern der Kalahari war das Bild mit den beiden Pfeilen nämlich keine Illusion. Für fast alle von ihnen sahen die Linien gleich lang aus. Das Forscher-Team um Marshall Segall testete dies noch mit Probanden aus siebzehn anderen Völkergruppen. Das Ergebnis: Der Effekt ist alles andere als universell. Tatsächlich waren die Europäer und Amerikaner, an denen die Illusion bis dahin erprobt wurde, im globalen Vergleich Außenseiter - sie waren die einzigen, bei denen die Täuschung eine so starke Wirkung hatte.


Die Geschichte der Müller-Lyer-Illusion ist eine, wie sie Psychologen im letzten Jahrhundert häufiger passierte. Ein Effekt wird entdeckt, getestet und als universell betrachtet, bis man das Experiment auch in nicht-westlichen Kulturen durchführt. Dabei stellte sich ganz deutlich etwas heraus: Die Probanden, die typischerweise an psychologischen Studien teilnehmen, sind die denkbar schlechtesten, um von ihnen generelle Aussagen über das menschliche Verhalten abzuleiten. Die Teilnehmer sind nämlich meist europäische oder nordamerikanische Psychologiestudierende. Das heißt, sie haben einen hohen Bildungsgrad, kommen meist aus einem urbanen oder zumindest industrialisierten Kontext und gehören (wenigstens in den USA) einer wohlhabenden Gesellschaftsschicht an, die sich die Universität auch leisten kann.

Die Psychologen Henrich, Heine und Norenzayan fassten das in einem mittlerweile berühmten paper so zusammen: Die Probanden, die an den allermeisten psychologischen Experimenten teilnehmen, sind WEIRD. Sie kommen nämlich aus einer Gesellschaft, die Western, Educated, Industrialized, Rich und Democratic ist - und damit unterscheiden sie sich stark von der globalen Mehrheit, die eben nicht so einem Kulturkreis angehört. Um das zu illustrieren, hier ein paar Zahlen: Dass du diesen Text hier gerade lesen kannst, bedeutet, dass du zu dem glücklichen Drittel der Menschheit gehörst, das Zugang zum Internet hat. Wenn die Weltbevölkerung ein Dorf mit 100 Menschen wäre, wären 15 von ihnen Europäer oder Nordamerikaner. Nur 7 der 100 hätten eine universitäre Bildung. Der typische Studienteilnehmer ist also nicht repräsentativ für die gesamte Menschheit.


Dass die meisten Studien nur an Psychologiestudierenden durchgeführt, die Ergebnisse dann aber als universell präsentiert werden, ist eigentlich völlig verrückt. Ein peruanischer Ureinwohner, der sich mühsam von Feldarbeit ernährt und dessen Sprache keine Zahlwörter hat, verhält sich anders und nimmt die Welt ganz anders wahr, als eine deutsche Psychologiestudentin, die im Fitnessstudio Podcasts hört und darüber nachdenkt, was sie morgen bei Instagram postet. Das sollte eigentlich einleuchtend sein. Trotzdem werden auch heute noch 90 Prozent der psychologischen Studien im westlichen Kulturkreis, hauptsächlich in den USA, durchgeführt.


Die kulturvergleichende Psychologie versucht deshalb, das Verhalten von Menschen aus verschiedenen Kulturen systematisch zu vergleichen und dabei vielleicht Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die alle Menschen trotz unterschiedlicher Umgebung gemeinsam haben. Für Forscher kann das ganz schön schwer sein - sie müssen nämlich Dinge, die sie selbst vielleicht als selbstverständliche Gegebenheiten kennen, hinterfragen, um so unvoreingenommen wie möglich an die Experimente heranzugehen. Ein Beispiel: Wir Europäer denken, dass der Körper und der Geist zwei separate Einheiten bilden. Für uns sind Emotionen und kühles, rationales Denken Gegensätze und auch unterschiedlich im Körper verortet: Gefühle fühlt das Herz, Denken tut der Kopf. Beides, Emotionen und Gedanken, kommen aus uns selbst und bestimmen unser Verhalten. Ganz klar, oder?


Verschiedene Kulturen haben ein ganz anderes Verständnis von unserem Innenleben. Für die Quechua, indigene Bewohner der ecuadorianischen Anden, sind Emotionen zum Beispiel viel stärker mit dem Körper verbunden. „Pena“, eine Mischung aus Scham, Trauer und Schmerz, ist für sie gleichzusetzen mit einer Krankheit. Hat einer aus dem Dorf „pena“, kann es sein, dass er daran stirbt, indem er von einer Klippe springt. Andere Dorfbewohner können sich sogar mit „pena“ anstecken. Für die Samoa in Polynesien wiederum gibt es keine klare Trennung zwischen Gefühlen und Verhalten. Das Wort „lieben“ ist in ihrer Sprache dasselbe wie „für jemanden Sorgen“. Die Emotion wird nicht als Grund für ein Verhalten gesehen - Fühlen und Tun ist dasselbe. Die Newar aus Nepal dagegen sehen einen kleinen Gott, der jedem in der Brust sitzt, als verantwortlich für Gefühle und Handeln. Auch historisch betrachtet ist die heutige westliche Sichtweise ein Ausreißer: Schon die alten Griechen glaubten, Götter leiteten die Handlungen der Menschen.


Auch für den Grund von Verhalten haben unterschiedliche Kulturen andere Erklärungen: Viele sehen das eigene Verhalten weniger motiviert von Gedanken, Gefühlen oder eigenem Willen. Andere Menschen oder die Situation sind für sie die Auslöser des Verhaltens. Die Bewohner der Ifaluk Inseln zum Beispiel sagen: „Wenn jemand Neid verspürt und deswegen sauer wird, ist derjenige Schuld, der sein Hab und Gut offen gezeigt hat.“ Auch in China und Japan haben andere Menschen und der Kontext des Verhaltens einen höheren Stellenwert bei der Erklärung von Verhalten. Forscher verglichen Zeitungsartikel über einen chinesischen Studenten, der in den USA mehrere Uni-Mitarbeiter umbrachte, nachdem er seine Abschlussarbeit nicht bestanden hatte. Während die New York Times in der Berichterstattung auf die Gefühle des Studenten einging („Whatever went wrong was internal“, „darkly disturbed man“, „sinister edge to Mr. Lu´s character“), fokussierten sich die chinesischen Zeitungen viel stärker auf die Situation und seine Beziehungen zu anderen Menschen als Grund für die Tat („did not get along with his advisor“, „Lu was a victim of the 'Top Students' Education Policy“, „murder can be traced to the availability of guns“).


Selbst Dinge, die uns vielleicht selbstverständlich vorkommen (zum Beispiel, dass wir selbst verantwortlich sind für unser Handeln) sind also in anderen Kulturen überhaupt nicht so offensichtliche Fakten. Eins ist dabei ganz wichtig: Dass sie andere Erklärungen haben, heißt nicht, dass sie es nicht anders erklären können. Wenn man von Göttern hört, die das Verhalten bestimmen, ist man schnell dabei, zu denken, die anderen Kulturen sind einfach noch nicht auf unserem hohen Entwicklungs- oder Bildungsstand. Der Europäer sieht sich historisch betrachtet ja häufig als der am weitesten entwickelte Mensch. Dass andere Kulturen Verhalten zum Beispiel lieber mit der Situation oder anderen Menschen erklären, bedeutet aber nicht, dass sie es kognitiv nicht schaffen, das Verhalten internal, also wie die New York Times, zu attribuieren. Die Unterschiede liegen einfach nur in den verschiedenen Denkweisen, die in unterschiedlichen Kulturen vermittelt werden. Kinder unterscheiden sich nämlich noch nicht so stark darin, wie sie Gefühle und Verhalten wahrnehmen.


Wenn nicht von den kognitiven Fähigkeiten, woher kommen dann die unterschiedlichen Wahrnehmungen vom Menschen und seinem Innenleben? Die Antwort ist natürlich: Von der Kultur selbst. Von Geburt an werden wir jeden Tag mit der Kultur konfrontiert, die unsere Mitmenschen uns zeigen. Dadurch wird unser Weltbild geformt. Wenn du als Baby weinst und deine Eltern sagen: „Oh nein, was ist denn los? Bist du traurig?“ lernst du: Jemand der weint, ist traurig. Trauer ist etwas Negatives. Wenn andere Menschen weinen, fragt man, warum. So wird ein europäisches Kind immer mehr darauf gepolt, Emotionen und innere Vorgänge als wichtig wahrzunehmen. Bei einem Kind peruanischer Quechua würde die Interaktion vielleicht aber ganz anders ablaufen.


In der Literatur unterscheidet man grob zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen. Westliche Kulturen sind meist individualistisch geprägt, das heißt, bei ihnen steht das Individuum und seine Selbstverwirklichung im Mittelpunkt. Kollektivistische Kulturen wie zum Beispiel China oder Japan werten Harmonie in der Gruppe dagegen viel höher als das Verfolgen von eigenen Zielen. Die Kategorisierung ist jedoch nur ein Anhaltspunkt, am dem man sich orientieren kann. Kulturen bestehen natürlich aus viel mehr Einflüssen und subtilen Nuancen. In letzter Zeit werden auch immer mehr die Unterschiede innerhalb von Kulturen untersucht, nämlich von Menschen aus dem städtischen und ländlichen Raum.


Um den Einfluss von Kultur zu erklären, hilft dieses Zitat von David Foster Wallace: Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, dann wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“ Kultur ist für den Menschen wie für den Fisch das Wasser. Sie ist das einzige Medium, durch das wir die Welt erfahren können. Wir sind so stark von der Kultur geprägt, die uns immer und überall umgibt, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen.


Ich hoffe, ich konnte euch mit diesem Artikel einen kurzen Überblick darüber geben, was kulturvergleichende Psychologie ist und warum sie wichtig ist. Mir persönlich hat es total viel gebracht, mich mit diesem Thema während meiner Bachelorarbeit mehr auseinanderzusetzen- vor allem, weil man dabei ständig seine eigenen Ansichten hinterfragen muss. Gerade in Zeiten der Globalisierung, in denen Kulturen immer mehr Kontakt miteinander haben, treffen verschiedene Weltauffassungen aufeinander. Kulturvergleichende Forschung kann helfen, dabei Verständnis für das Gegenüber zu wahren und andere Ansichten und Verhaltensweisen zu respektieren. Und nicht vergessen: Wir sind die, die WEIRD sind!




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