von Nele Franzen
Als ich Mittwochmorgen von Kasia Lenhardt's Tod gelesen habe, war ich schockiert, traurig und unfassbar wütend. Wütend auf unsere Gesellschaft, wütend auf Instagram und ganz besonders wütend auf Menschen, die auf sozialen Netzwerken "Meinungsfreiheit" als Ausrede für Mobbing und antisoziales Verhalten nutzen. Dass ich antisoziales Verhalten zum kotzen finde muss ich glaube ich nicht weiter ausführen, dennoch ist es wichtig zu verstehen wieso Menschen zu Verhalten wie Mobbing und Cyber-mobbing neigen. Im folgenden Artikel werde ich auf verschiedene Studien, Effekte und Phänomene eingehen um, zusammen mit euch, zu verstehen, wieso es auf sozialen Netzwerken vermehrt zu Hass, übler Nachrede, Rufmord und Mobbing kommt.
Was ist antisoziales Verhalten?
Unter antisozialem Verhalten versteht man die Missachtung der Bedürfnisse und Rechte anderer. Außerdem wird auch Impulsivität, Reizbarkeit, Aggressivität sowie das Fehlen von Scham und Reue mit antisozialem Verhalten assoziiert. Aber wie entsteht antisoziales Verhalten? Bevor wir explizit über Mobbing sprechen, müssen wir darüber reden, welchen Einfluss Gruppendynamik und Gruppenverhalten auf ein Individuum habe. Ein berühmtes Beispiel für Gruppendynamik und antisoziales Verhalten ist das Stanford-Prison-Experiment.
Stanford-Prison-Experiment
Das Stanford-Prison-Experiment ist eines der wohl berühmtesten, kontroversesten und ethisch fragwürdigsten Experimente in der Geschichte der Psychologie. Zimbardo und seine Kollegen luden 24 männliche Probanden zu einem Experiment ein, in dem sie entweder die Rolle eines Gefängniswärters oder die eines Gefängnisinsassen einnehmen sollte. Die Probanden würden zufällig einer der beiden Gruppen zugeordnet. Die Probanden wurden aus 75 Bewerbern ausgewählt, weil sie physisch und mental am stabilsten, reifsten und am wenigstens involviert in antisoziales Verhalten waren. Das "Gefängnis" war ein Scheingefängnis im Keller der Stanford Universität. Die Insassen wurden wie echte Kriminelle behandelt, sie wurden in ihren eigenem Zuhause festgenommen, fotografiert und mussten ihre Fingerabdrücke abgeben. Danach wurde ihnen die Augen verbunden und sie wurden ins Gefängnis gebracht. Als die Insassen das Gefängnis erreichten, mussten sie ihre persönlichen Gegenstände abgeben, bekamen Gefängnisklamotten und ihnen wurde eine Nummer zugeordnet, mit der sie von nun an angesprochen wurden. Die Wärter bekamen kakifarbene Uniformen und Sonnenbrillen, um Augenkontakt zu vermeiden. Hier könnt ihr den ganzen Aufbau des Experiments nachlesen.
Es dauerte nur ein paar Stunden, bis die Wärter anfingen, die Insassen zu belästigen, indem sie sie weckten. Die Insassen adaptierten schnell "Insassen-ähnliches" Verhalten. Sie wurden verspottet, mussten besonders langweilige Tätigkeiten ausüben und wurden entmenschlicht. Liegestütze waren eine beliebte Form der physischen Bestrafung, einer der Wärter trat den Insassen dabei in den Rücken oder lies andere Insassen auf dem Rücken sitzen. Am nächsten Tag rebellierten die Insassen. Ihr könnt euch vorstellen, dass sich das Verhältnis der Wärter und Insassen über die Tage verschlechterte. Die Wärter übten Kontrolle aus, sodass die Insassen immer abhängiger und unterwürfiger wurden. Je unterwürfiger die Insassen wurde, umso aggressiver und durchsetzungsfähiger wurden die Wächter. Nach 36 Stunden litten die Insassen an emotionaler Beeinträchtigung, unkontrollierbarem Weinen und zeigten desorganisierte Gedanken und Wut. Zimbardo wollte das Experiment über zwei Wochen laufen lassen, jedoch musste es nach sechs Tagen abgebrochen werden, wegen der emotionalen Zusammenbrüche der Insassen und der exzessiven Aggressionen der Wärter.
Wie kann das sein, dass Probanden, die vorher emotional stabil, reif, und prosozial waren, zu antisozialem Verhalten fähig sind? Eine Erklärung für das Verhalten ist Deindividuation. Deindividuation beschreibt das Phänomen, dass ein Individuum, welches sich in einer Gruppe befindet, ein vermindertes Gespür für die eigene Identität hat und sich weniger stark an gesellschaftliche Normen und Regeln hält, als wenn es alleine wäre. Die Wärter haben also unmoralischer und antisozialer gehandelt, weil sie einer Gruppe angehörten. Zimbardos Model der Deindividuation nennt Anonymität, Diffusion der Verantwortung, eine antreibende Kraft von anderen (Gruppenmitgliedern) und Reizüberflutung als Bedingungen für Deindividuation. Als Diffusion der Verantwortung wird das Phänomen beschrieben, dass die Eigenverantwortung, mit der Anzahl der Menschen die Teil der Situation sind, sinkt. Man kann annehmen, dass die Wärter sich nicht für die Taten im Gefängnis verantwortlich gefühlt haben, da sie Teil einer Gruppe waren, von denen sich jeder hätte verantwortlich fühlen können. Also ganz nach dem Motte "Warum soll ich mich verantwortlich fühlen, da waren genug andere Menschen beteiligt".
Ein weiteres Phänomen, das "hilft", die moralische Schwelle zu übertreten, ist Dehumanisierung, also die Entmenschlichung von potenziellen Opfern. Diese setzt sich aus der Objektifizierung (Verleugnung der Menschlichkeit, das Opfer wird als Objekt betrachtet) und der Animalisierung (Verleugnung der einzigartigen menschlichen Qualitäten, das Opfer wird als Tier betrachtet) zusammen. Dadurch, dass die Insassen nur mit Nummern angesprochen wurden, also eine Nummer darstellten und keinen Mensch, wurden die Insassen objektifiziert. Die Objektifizierung der Insassen machte es den Wärtern "leichter" sich antisozial zu verhalten.
Es gibt Situationen, in denen solche Gruppendynamik-Mechanismen so stark werden, dass es im Tod von Menschen endet, zum Beispiel im Krieg, in Bandenkämpfen oder auch beim sogenannten "suicide baiting". Suicide baiting beschreibt das Phänomen, bei der eine Gruppe von Menschen, einen anderen Menschen der aktiv versucht Selbstmord zu begehen, anfeuern und ermutigen den Selbstmord zu vollziehen. Als ich davon das erste Mal gehört habe, war ich geschockt dass Menschen zu so etwas in der Lage sind. Suicide baiting kommt relativ selten vor, trotzdem passiert es und das ist grauenvoll. Forschungen zeigen, dass Anonymität, Diffusion der Verantwortung und Deindividuation suicide baiting erklären.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deindividuation, Dehumanisierung, Anonymität, Diffusion der Verantwortung und Reizüberflutung Voraussetzungen für antisoziales Verhalten sind. Instagram ist ein riesiges Netzwerk mit über 500 Millionen aktiven Nutzern. Wir haben ja bereits geklärt, dass Individuen in großen Gruppen zu Deindividuation neigen. Eine Gruppe ist definiert als mehrere Individuen, die in einem Verhältnis zueinander stehen, das sie bis zu einem bestimmten Grad voneinander abhängig macht. Es ist sicherlich eine Sache der Auslegung, aber ich bin mir sicher, dass sich Individuen auf Instagram zu einer solchen Gruppe zusammenfügen können. Somit wäre die Rahmenbedingung "Deindividuation" gegeben. Dass die Rahmenbedingungen Anonymität, Diffusion der Verantwortung und Reizüberflutung im Internet, wo man sich hinter Usernamen verstecken kann, ebenfalls gegeben sind, ist klar. So traurig es auch ist: Instagram hat die "perfekten" Voraussetzungen, um ein Schauplatz von Hass, Mobbing und antisozialem Verhalten zu sein.
Dass in einer Gruppe leicht antisoziales Verhalten entsteht, haben wir jetzt etabliert. Aber wie lässt sich erklären, dass viele Menschen, die nicht zu dieser Gruppe gehören, wegschauen und nicht helfen, wenn sie Zeugen von antisozialem Verhalten wie Mobbing und Cybermobbing werden?
Der Bystander-Effekt
Fangen wir mit dem Mordfall "Kitty Genovese" an. Kitty Genovese war eine junge Frau, die vor ihrem Haus auf offener Straße ermordet, vergewaltigt und ausgeraubt wurde. Der Täter schlug am 13. März 1964 zu. Er verfolgte Kitty und stach auf sie ein. Ein Nachbar hörte die Schreie, öffnete das Fester und rief, dass er das Mädchen in Ruhe lassen soll. Der Täter stieg ins Auto und verließ den Tatort. Niemand rief die Polizei, niemand half dem Mädchen. Kitty versuchte, schwer verletzt zu ihrer Haustür zu gelangen. Der Täter wartete ein paar Blocks entfernt. Da die Polizei nicht kam, verkleidete er sich und kehrte zum Tatort zurück, um sein Werk zu vollenden. Einige Minuten nach der zweiten Tat ging der erste Notruf ein- zu spät. Kitty erlag noch im Krankenwagen ihren Verletzungen.
Es gab mindestens zwei Zeugen, die den Angriff gesehen haben, und viele weitere, die die Schreie hörten. Die Anwohner sagten später aus, sie dachten, es habe sich nur um das "übliche Geschrei" gehandelt. Kitty Genovese hätte noch viele Jahre leben können, wenn nicht die Zeugen, die die Tat mitbekamen, geschwiegen hätten. Wie kann es sein, dass niemand von ihnen Kitty nach dem ersten Angriff zur Hilfe kam? Um diese Frage zu beantworten, wurde für eine psychologische Untersuchung des Falls eingeleitet. Die Antwort ist der Bystander-Effekt (Zuschauereffekt), der deshalb auch als "Genovese Syndrom" bekannt ist. .
Der Bystander-Effekt besagt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Hilfeleistung mit der Anzahl der "Zuschauer" sinkt. Das bedeutet, je mehr Leute mitbekommen, dass du dich in einer Notsituation befindet, um so unwahrscheinlicher ist es, dass du wirklich Hilfe bekommst. Aber warum ist das so? Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Erklärungen für die unterlassene Hilfeleistung könnten pluralistische Ignoranz (wenn man sieht das niemand etwas tut, dann tut man auch nichts), Diffusion der Verantwortlichkeit (je mehr Menschen, desto kleiner ist die gefühlte Eigenverantwortung) oder Ambiguität der Situation (die Situation wird nicht als Notfall interpretiert) sein. Auf eine Erklärung konnten die Wissenschaftlicher sich bisher aber nicht einigen.
Wie kann der Bystander-Effekt Cybermobbing erklären? Wie eben schon erwähnt, ist Instagram ja ein riesiger Schauplatz, auf dem wir als User interagieren: Wenn jemand etwas postet, rücken wir in die Rolle des Zuschauers. Dadurch, dass die Zuschauerzahl auf sozialen Netzwerken auf ein Maximum steigt, ist es leicht, Cybermobbing zu ignorieren, nichts zu sagen, keine Zivilcourage zu zeigen - da greift dann der Bystander-Effekt (denn je mehr Zuschauer, desto weniger fühlt man sich verantwortlich). Man denkt zum Beispiel: "Ein anderer wird schon was sagen", oder "Niemand anders sagt was dagegen, das wird schon seine Gründe haben".
Jetzt, wo wir wissen, wie antisoziales Verhalten entsteht und wieso Menschen wegschauen, müssen wir noch die entscheidenden Frage beantworten. Warum mobben Menschen? Ich habe diese Frage bewusst ans Ende gesetzt, weil sie nicht so leicht zu beantworten ist. Auf unserem Account habe ich euch gefragt, was ihr denkt, was Gründe für Mobbing und Hass auf Instagram sind. Die meist gegebenen Antworten waren: Neid, niedriges Selbstwertgefühl, Unzufriedenheit, und Anonymität. Wir konnten ja schon klären das Anonymität eher eine Rahmenbedingung ist als ein Grund für Mobbing, da es ja genügend Menschen auf Instagram gibt die zwar auch anonym sind aber eben nicht mobben. Trotzdem liegt ihr mir euren Vermutungen ziemlich nah dran.
Was ist Mobbing?
Bevor wir klären, warum Menschen mobben, sollten wir kurz die Definition von Mobbing klären. Als Mobbing ist ein Verhalten dann definiert, wenn ein Individuum wiederholt und das über einen längeren Zeitraum bloßgestellt wird. Die negativen Aktionen werden von einem oder mehreren Individuen im Kontext von einem Macht-Ungleichgewicht durchgeführt. Mobbing ist eine Form von aggressivem Verhalten, das sich physisch durch Gewalt oder relational (lästern, bloßstellen, üble Nachrede; Schikane, Ausgrenzung usw.) äußert. Cybermobbing besteht zum größten Teil aus relationalen Aggressionen.
Warum mobben Menschen?
Mobbing ist eine Form von aggressiven Verhalten und wird mit der generellen Tendenz des Individuums zu aggressiven Verhalten assoziiert. Das bedeutet, dass Mobber auch in anderen Bereichen ihres Lebens zu Aggressionen neigen.
Wissenschaftler sind sich sicher, dass Mobbing als Versuch, sozialen Status zu erwerben oder zu behalten, gewertet werden kann. Status ist ein natürliches Bedürfnis jedes Menschen. Menschen, die besonders viel Wert auf Status legen, neigen eher zu Aggressionen. Außerdem können Mobbern bestimmte Persönlichkeitsstrukturen zugeordnet werden. Viele Theorien sehen Mobber als schlecht angepasste Individuen mit niedrigem Selbstwertgefühl und fehlenden sozialen Fähigkeiten. Forschungen zeigen außerdem, dass Mobber Aggressionen befürworten. Nachdem sie Aggressionen genutzt haben, erwarten sie eine positive Rückmeldung und sehen Aggressionen als akzeptiertes Verhalten. Mobber schätzen Dominanz und sind meist eine zentrale Figur in ihrem sozialen Netzwerk. Mobber haben soziale Probleme, Verhaltensprobleme und psychiatrische Probleme (es gibt noch viele andere Theorien und Gründe, warum Menschen mobben, aber ich habe mich jetzt für die Gründe entschieden, die am besten in den Kontext passen). Es wird deutlich, dass das Problem beim Mobber liegt und nicht beim Opfer (nicht despektierlich gemeint, "Opfer" ist der gängige Begriff in der Fachliteratur).
Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass Mobbing eine riesige Bürde für die Opfer darstellt. Opfer leiden unter sozialen, psychischen und physischen Problemen. Wie weit Mobbing die Opfer treiben kann, haben wir schon oft genug in den Medien mitbekommen, und trotzdem ändert sich nichts. Ich bin mir sicher, dass ihr, unsere Leser, euch bewusst seid, welche Konsequenzen Mobbing haben kann. Dennoch, und da möchte ich mich gar nicht rausnehmen, denke ich, dass wir zu oft die Augen verschließen, weil wir der Meinung sind, dass uns "das" nichts angeht (Diffusion der Verantwortlichkeit).
Zum Schluss möchte ich gerne noch sagen, dass Instagram natürlich nicht nur Schauplatz von Bösem ist. Es gibt super viele positive Aspekte, die uns allen bestimmt auch bewusst sind. Trotzdem muss man realistisch sein, dass soziale Netzwerke die Rahmenbedingungen für antisoziales Verhalten schaffen. Dennoch, und darüber bin ich sehr froh, überwiegt für viele Menschen das Positive. Damit das so bleibt und wir Hass, Mobbing und antisoziales Verhalten minimieren können, sollten wir alle etwas dafür tun. Schaut nicht weg, seid füreinander da, be kind!
Ich hoffe, dass ich mit diesem Artikel aufklären konnte, wieso sich Menschen auf sozialen Netzwerken antisozial verhalten, wie antisoziales Verhalten entsteht und wieso so viele Menschen wegschauen. Ich hoffe, dass, falls ihr mal Zeuge von Mobbing werdet, ihr an diesen Artikel denkt, euch der Bystander-Effekt ins Gedächtnis kommt und euch das motiviert nicht wegzuschauen und kein Bystander zu sein. Wenn ihr selbst Opfer von Mobbing werdet (hoffentlich nicht!!!), seid euch klar darüber, dass nicht ihr das Problem seid, sondern der Mobber! Hoffentlich kann auch diese Art der Aufklärung über das Thema zu einem friedlicheren Instagram beitragen. Schreibt mir gerne bei Fragen, Anregungen und Kritik. Besucht unseren Instagram Account @verkopftimkopf für Zusammenfassungen der Blogartikel.
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