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Wann ist ein Verhalten krankhaft?

Aktualisiert: 14. Juni 2021

von Paula Küppers


Wann ist jemand psychisch krank – und bis wann gilt man noch als gesund? Und was hat das mit einer Schüssel Reis zu tun?


Die Frage, ab wann menschliches Verhalten als krank gilt, kann eigentlich gar nicht universell beantwortet werden.


Bei einer körperlichen Krankheit ist es meistens relativ leicht, zu sagen, wann jemand krank ist: Um mit einer physischen Krankheit diagnostiziert zu werden, braucht man einfach nur ein bestimmtes Symptommuster. Du hast Fieber und Halsweh? Okay, du hast einen Infekt. Da braucht nicht diskutiert werden, wie stark das Fieber ist.



Bei psychischen Krankheiten ist es nicht ganz so einfach. Das liegt daran, dass man die Symptome nicht einfach so am Körper feststellen kann, sondern sie verstecken sich im Verhalten, und das ist ja bekanntlich ganz individuell. Die Grenze, ob ein Symptom noch als gesundes Verhalten gilt oder schon als krankhaft, ist fließend.


Die Umstände


Man muss das Verhalten immer im Kontext bewerten. Wenn jemand zwei Wochen lang an nichts mehr Interesse hat und zu traurig zum Aufstehen ist, kann das eine ganz normale und gesunde Trauerreaktion sein, wenn man zum Beispiel gerade einen geliebten Menschen verloren hat. In einer anderen Situation kann das aber krankhaft sein und muss als Depression gewertet werden.


Auch die Kultur muss man in die Diagnose mit einbeziehen: Bei den Ureinwohnern von Nepal ist es zum Beispiel ganz normal, zu glauben, dass einem ein kleiner Gott in der Brust sitzt, der das eigene Verhalten lenkt. In Deutschland würde man einer Person vielleicht Wahnvorstellungen diagnostizieren, wenn sie so etwas erzählt. Man muss also beim Bewerten, ob ein Verhalten krankhaft ist oder nicht, immer auf die Situation achten, in der das Verhalten auftritt.



Was ist normal?


Grundsätzlich kann man sagen: Meist gilt ein Verhalten als Symptom einer psychischen Krankheit, wenn es in hohem Maße von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Man kann es sich so vorstellen, dass das menschliche Verhalten genau wie Gewicht oder Körpergröße Normalverteilt ist, also in einer Glockenkurve. Die meisten Leute sind ungefähr im Durchschnitt.


Bildquelle



Bei der Körpergröße heißt das: Die meisten Frauen sind zwischen 1,50 und 1,70 m groß. Darunter und darüber gibt es nicht mehr so viele Leute. Beim Verhalten ist es genau so. Sagen wir mal, es gibt genau so eine Glockenkurve zum Thema Hände waschen. Die meisten Leute befinden sich in der Mitte der Kurve, vielleicht waschen sie sich dreimal bis zehnmal am Tag die Hände. Leute, die ganz am rechten Rand der Kurve sind, waschen sie dagegen vielleicht 50 Mal am Tag. Das Verhalten entspricht also nicht der Norm und könnte als krankhaft eingestuft werden. Vielleicht haben diese Menschen am Rand der Kurve also einen Waschzwang.


Dabei gilt aber eine Einschränkung: Wenn das Verhalten niemanden stark beeinträchtigt, das heißt, weder die Menschen in der Umgebung noch einen selbst, reicht es meist nicht für eine Diagnose. Nur weil jemand morgens Cornflakes mit Ketchup isst (ein Verhalten, das stark von der Norm abweicht) heißt es nicht, dass das Verhalten krankhaft ist, denn er tut damit ja weder sich noch den Menschen in seiner Umgebung weh.


Im DSM, dem Klassifikationsmanual für psychische Krankheiten, steht deshalb fast immer als Diagnosekriterium: „Die Krankheit beeinträchtigt den Betroffenen stark in seinen täglichen Funktionsbereichen“ oder „die Krankheit löst einen starken Leidensdruck aus“.



Die Sache mit den Manualen


„Wenn es ein Klassifikationsmanual gibt, das einem sagt, wer krank ist und wer nicht, warum schreibst du dann überhaupt einen Artikel darüber?“, könnte man jetzt fragen. Klar, man kann es sich ganz einfach machen und sagen: Jemand ist psychisch krank, wenn das eigene Verhalten mit den Symptomen einer Krankheit im DSM (oder im ICD, dem Klassifikationssystem der WHO) übereinstimmt. Diese Klassifikationssysteme sind auch wichtig, um mit Krankenkassen abzurechnen und rechtliche Dinge klarzustellen. Außerdem ermöglichen sie es, über psychische Krankheiten klar zu kommunizieren. Wenn ich den*die Therapeut*in wechsle und sage: Ich habe Depressionen, dann weiß er*sie sofort, welche Symptome damit gemeint sind.


Aber auch die Klassifikationssysteme können nicht universell festlegen, was krank ist und was nicht. Vom DSM zum Beispiel wird bald schon die sechste Fassung herausgegeben. Manche Krankheiten werden darin neu hinzugefügt, bei anderen wird das Symptommuster erweitert oder geändert. Das liegt zum Beispiel daran, dass es neue Erkenntnisse über bestimmte Krankheiten gibt. Aber auch die gesellschaftliche Situation kann beeinflussen, was der DSM als krank definiert.



Bestes Beispiel: Bis vor kurzem galt es nach dem DSM noch als Krankheit, sich nicht mit seinem biologischen Geschlecht zu identifizieren. Heißt das, transgeschlechtliche Menschen waren vorher krank, und sind es jetzt auf einmal nicht mehr? Oder Andersrum gedacht: Die Binge Eating Disorder gibt es im DSM erst seit der letzten Ausgabe. Heißt das, die Menschen, die Binge Eating praktiziert haben, waren vorher gesund, und sind erst seit der neuen DSM Ausgabe krank? Daran sieht man: Ob jemand eine psychische Krankheit hat oder nicht, hängt immer auch von der Definition von Krankheit ab. Psychische Krankheiten sind immer relativ.


Manchmal ist es deshalb gut, die gängigen Diagnosemanuale kurz zu vergessen und sich an den Fragen zu orientieren, die ich oben gestellt habe: Wie schlecht geht es mir oder den Menschen in meiner Umgebung? Menschen sind keine Kekse und wir passen nicht alle in die Förmchen, die das DSM oder ICD mit seinen Diagnosekriterien vorgibt. Nur, weil meine Symptome nicht perfekt auf eine bestimmte Diagnose in einem Manual passen, heißt das nicht, dass sie nicht valide sind; wenn es einem schlecht geht, sollte man trotzdem Hilfe suchen. Klassifikationssysteme sollten am besten als Richtlinie und nicht als Gesetz verstanden werden.



Wenn man zwei Reiskörner vor sich liegen hat und nacheinander immer eins dazulegt, ab wann liegt dann vor einem ein Haufen und nicht mehr einzelne Reiskörner? Sollte man vielleicht einfach ab 40 Reiskörnern „Haufen“ sagen? Aber wenn ja, wo liegt dann der Unterschied zu 39 Reiskörnern? Ist das dann kein Haufen mehr? Das ist das sogenannte Haufenparadoxon.


Bei psychischen Krankheiten kann man sich dasselbe fragen. Wenn jemand drei Symptome hat, ist er gesund, aber ab vier Symptomen ist er depressiv? Wo liegt da der Unterschied? Klassifikationssysteme werden oft dafür kritisiert, dass sie eine willkürliche Grenze zwischen "krank" und "gesund" ziehen, das heißt: Dichotomisieren. Krankheit ist, gerade, wenn es um das menschliche Verhalten geht, immer ein Spektrum. Niemand ist entweder ganz krank oder ganz gesund, sondern zwischen diesen beiden Polen gibt es immer eine Abstufung. Aber natürlich muss es, wenn das Gesundheitssystem funktionieren soll, diese Kategorisierung geben, denn sonst würde es die Abrechnung mit den Krankenkassen ganz schön schwierig machen.


Kritiker machen dem DSM auch Vorwürfe, dass er die Grenze zwischen krank und gesund zu niedrig legt. Sie sagen, dass es immer weniger Symptome braucht, um mit einer Krankheit diagnostiziert zu werden. Zum Beispiel bei Diagnosen wie Asperger – die Kritik lautet, dass das Abweichen von der Norm, wie es bei Asperger der Fall ist, niemandem weh tut. Die Aufnahme von Asperger ins DSM deklariere Menschen künstlich als krank, die eigentlich nur ein bisschen anders sind als andere.


Hand in Hand geht diese Kritik mit dem Vorwurf, das DSM sei zu stark beeinflusst von Pharmakonzernen. Von 27 Menschen in dem Komitee, das das Manual erstellt, wurden bei 18 Verbindungen zu Pharmakonzernen nachgewiesen. Das Komitee verteidigte sich mit der Aussage, dass eine Zusammenarbeit wichtig sei, um das Manual auf die medikamentöse Behandlung von Störungen abzustimmen. Kritiker meinen aber, dass Pharmakonzerne mit Absicht die Hürde zu „krank sein“ tiefer legen, damit sie mehr Medikamente verkaufen können.




Bei allen Kritikpunkten muss man aber sagen: Klassifikationsmanuale sind extrem wichtig für die Gesellschaft. Sie helfen nicht nur, wie oben erklärt, bei der Kommunikation. Sie sorgen auch dafür, eine Krankheit „offiziell“ zu machen - das macht es möglich, dass Betroffene einfacher die passende Hilfe bekommen. Es gibt auch viele Menschen, unter anderem Greta Thunberg, die sagen, dass ihnen die Diagnose einer psychischen Krankheit erleichtert hat, weil man sich so endlich verstanden und zugehörig fühlt.


Um das Ganze Zusammenfassen: "Offiziell", also rechtlich, ist man psychisch krank, wenn der DSM oder ICD das Verhalten als Krankheit definiert. Trotzdem lohnt es sich aber, diese Klassifikationssysteme sowie den Begriff von Krankheit und Gesundheit zu hinterfragen. Im Vordergrund sollte immer stehen: Wie geht es dem Betroffenen? Diese Frage muss man sich ganz individuell und unabhängig davon, was andere sagen, stellen.


Quellen:

71 Ansichten1 Kommentar

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1件のコメント


pikaxo3143
11月01日

Très satisfait de ce shorty homme. Il est léger, et je l'oublie presque quand je le porte.

Je suis ravi de la qualité de ce homewear homme. Le homewear est respirant et idéal pour passer du temps à la maison.


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