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Klinische basics #7: Anorexia Nervosa (Magersucht)

Aktualisiert: 14. Juni 2021

von Nele Franzen


Triggerwarnung: Im folgenden Beitrag werden die Themen Magersucht und Essstörung behandelt.


Ganz im Gegenteil zu der Annahme vieler ist Magersucht eine schlimme psychische Krankheit. Betroffene suchen sich nicht aus einer Laune heraus aus, magersüchtig zu werden, es kommen nämlich viele Faktoren zusammen, die eine Magersucht auslösen. Sätze wie "Die muss einfach mal mehr essen" oder "jedes Model ist magersüchtig" sind nicht nur faktisch falsch, sondern spielen das Leid der Betroffenen runter.


Was ist Magersucht?

Anorexia Nervosa oder Magersucht gehört nach dem DSM zu den Essstörungen. Eine Essstörung zu haben bedeutet nicht, dass man ein Ernährungsproblem hat, sondern, dass man ein gestörtes Verhältnis zu - oder einen gestörten Umgang mit - Essen hat. Die Kriterien, um mit Magersucht diagnostiziert zu werden, sind relativ überschaubar, aber viel tiefgreifender und intensiver als es auf den ersten Blick scheint.


Betroffene schränken ihre Kalorienzufuhr oft auf ein Minimum ein was, zu einer signifikanten Gewichtsabnahme führt. Dadurch sind sie oft Untergewichtig. Betroffene leiden zusätzlich an einer intensiven Angst, zuzunehmen. Um nicht zuzunehmen, üben Betroffene bestimme Handlungen aus, welche die Kalorienzufuhr minimieren. Dabei unterscheidet man zwischen dem restriktiven und dem purging Typ. Als restriktiven Typ bezeichnet man Betroffene, die die Nahrungsaufnahme vehement verweigern. Beim purging Typ übergeben sich Betroffene nach der Aufnahme von schon kleinen Mengen Nahrung. Viele machen auch Gebrauch von Medikamenten wie Abführmittel.


Ein weiteres Kriterium ist die falsche Körperwahrnehmung. Obwohl Magersüchtige oft so dünn sind, dass es von außen zu sehen ist, finden sie sich selbst noch zu dick. Ein Blick in den Spiegel sagt nicht "du bist zu dünn, hör auf abzunehmen" sondern er schreit "du bist zu dick, nimm weiter ab". Dabei fehlt auch oft die Einsicht, wie gefährlich die Gewichtsabnahme ist. Aufgrund des Untergewichts kommt es oft noch zu weiteren körperlichen Symptomen, welche aber keine Kriterien für die Krankheit darstellen, weil nicht jeder, der mit Magersucht diagnostiziert wird, darunter leidet.

Oft bleibt bei Betroffenen die monatliche Blutung aus, das nennt man sekundäre Ammenorrhoe. Durch die Gewichtsabnahme arbeitet der Körper auf Sparflamme. Ihm fehlen Fettzellen, sodass der Körper das weibliche Geschlechtshormon Östrogen nicht bilden kann, was zum Aussetzen des Eisprungs und deshalb zur sekundären Ammenorrhoe führt. Des Weiteren leiden Betroffene oft an trockener Haut, brüchigen Haaren und Nägeln und einer Intoleranz für Kälte. Deshalb wachsen an den Armen, Beinen und oft im Gesicht ganz feine Haare, um den Körper vor der Kälte zu schützen. Das nennt man Lanugobehaarung. Durch den Nährstoffmangel leiden viele Betroffene an Osteoporose, die Knochen werden brüchig. Sowohl das Herz-Kreislaufsystem, als auch der Hormonhaushalt leiden massiv unter der Gewichtsabnahme. Verliert der Körper den Kampf gegen die Krankheit und wird gezwungen aufzugeben, stirbt er. Etwa 15 Prozent der Betroffenen sterben an Mangelernährung oder Suizid.


Warum entsteht eine Essstörung?

Soziale und psychologische Gründe sind typische Gründe für das Entstehen einer Essstörung. Zu den sozialen Gründen gehören unteranderem das gesellschaftliche Ideal oder familiärer Druck. Zu den psychologischen Gründen gehören beispielsweise ein vermindertes Selbstwertgefühl oder ein vermindertes Gefühl von Kontrolle. Auch ein gesteigertes Streben nach Perfektion fördert die Entstehung einer Essstörung (was aber nicht bedeutet, dass jeder Perfektionist essgestört ist). Frauen erkranken öfter an Magersucht, dennoch ist es wichtig zu sagen, dass auch Männer an Magersucht erkranken. Magersucht ist keine reine Frauen-Krankheit, aber da das in den Medien oft so dargestellt wird, wird die Magersucht bei Männern oft viel später erkannt, weshalb die Krankheit häufig einen schlimmeren Verlauf hat.

Ich persönlich finde, dass wenn man sich die Kriterien einer Magersucht durchliest, keinen genauen Überblick hat, wie gefährlich die Krankheit wirklich ist und wieso Betroffene nicht einfach nur dünn sind, sondern ganz schlimme Gedankenstrukturen haben. Deshalb möchte ich euch das ganze an einem Beispiel verdeutlichen.


Mein ganz persönliches Beispiel

Wie die Überschrift schon vermuten lässt, geht es in dem Beispiel um mich. Vorab möchte ich klarstellen, dass ich nie mit Magersucht diagnostiziert wurde und deswegen auch nie in psychiatrischer Behandlung war. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich damals unter einer Essstörung litt, nicht unbedingt Magersucht, aber ich hatte definitiv ein gestörtes Verhältnis zum Essen. Ich möchte das gerne mit euch teilen, weil ich denke, dass es als außenstehende Person sehr schwierig ist, zu verstehen warum Betroffene nicht einfach mehr essen oder was gedanklich passiert, dass Betroffene sich runterhungern. Fangen wir an: Ich war 14 Jahre alt, als ich mich das erste Mal so richtig mit mir und meinem Körper auseinander gesetzt habe, da ich zu dem Zeitpunkt meinen ersten Freund hatte. Zu der Zeit habe ich auch regelmäßig Sport getrieben, da ich Teil einer ziemlich leistungsstarken Handballmannschaft war. Soweit ich mich erinnere, habe ich zu dem Zeitpunkt ca. 56 kg gewogen, was für das Alter und meine Größe ein völlig normales Gewicht war. Ich weiß nicht genau, was vorgefallen ist, dass ich nicht zufrieden mit meinem Körper war, aber eins stand fest: Ich war es nicht. Deshalb traf im Sommer 2014 kurz vor den Sommerferien den Entschluss "Ich muss abnehmen". Mit 14 Jahren ein seltsamer Gedanke, dennoch reicht das ja nicht aus, um essgestört zu sein. Also was passierte mit mir? Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon Instagram und konnte mich deshalb ganz intensiv mit Essen auseinandersetzen. Ich habe mir stundenlang Rezepte durchgelesen und Bilder von Essen angeschaut. Schnell habe ich verstanden, dass man im Internet nach Abnehmtipps suchen kann. Dabei bin ich dann auf den allseitsbekannten BMI gestoßen, den Bodymaßindex, der dir verrät ob du schlank genug bist oder eben nicht. Natürlich rechnete ich meinen BMI aus und tada - ich war "Normalgewichtig". Irgendwas störte mich daran, dass da nicht schlank oder untern dem Durchschnitt stand. Von da an stellte ich meine Ernährung um. Ich stieg auf Rohkost um, jeden Tag nahm ich kleingeschnittene Paprika, Möhren und Gurke mit zur Schule und verzichtet auf mein Käsebrötchen. Ich aß ganz langsam, da das Internet mir gesagt hatte, dass dann das Sättigungsgefühl schneller eintritt. Über die Sommerferien wurde mein Verhältnis zu Essen immer schlimmer. Ich war von dem Gedanken, was ich tagsüber esse, besessen, meine Gedanken kreisten nur noch um dieses Thema und wie ich mein Essverhalten am besten kontrollieren kann. Ich beschloss von nun an, für mich selbst zu kochen, damit ich kontrollieren konnte, wie viele Kalorien in meinem Essen waren. Außerdem befolgte ich einen genauen Plan, um welche Uhrzeit gegessen wird. Ich fing an, mich regelmäßig zu wiegen, morgens nach dem Aufstehen bevor ich frühstückte. Schnell bemerkte ich erste Erfolge, meine Gewicht sank und es fühlte sich gut an. Es machte Spaß, Kontrolle über etwas zu haben, und ich war stolz darüber, wie diszipliniert ich war. Nach kurzer Zeit bekam ich Komplimente zu meiner Figur. Obwohl ich vorher schon eher sportlich-schlank war, schien es anderen zu gefallen, dass ich ein wenig abgenommen habe. Aber ich wollte mehr. Ich wusste: Wollte ich mehr abnehmen müsste, ich weniger essen und mehr Sport machen. Ich googelte, wie man sein Hungergefühl unterdrücken kann. Ich stieß auf Zähneputzen und Kaugummi kauen. Von da an putze ich mir jedes Mal die Zähne, wenn ich Hunger bekam und hatte ständig ein Kaugummi im Mund. Ich wog mich nicht mehr nur morgens, sondern auch abends, weil man abends ja bekanntlich mehr wiegt und wenn ich abends mit meinem Gewicht zufrieden war, bedeutet mir das mehr als morgens wenig zu wiegen. Nach den Sommerferien wog ich 46kg, meine Periode kam nicht mehr und ich war körperlich schwach. Ich hatte innerhalb von 6 Wochen 10 kg abgenommen und war stolz auf meine thigh gab (die damals super im Trend war). Ich weiß noch, dass das damals super vielen aufgefallen ist, wie sehr ich abgenommen hatte. Damals habe ich mich darüber gefreut. Ich wollte nicht mehr mit meinen Freunden essen gehen oder bei Freunden Zuhause essen, weil sich das einfach nicht gut angefühlt hat. Die Mutter meiner besten Freundin sagte damals zu mir "du siehst gar nicht mehr aus wie Nele“, aber das belächelte ich nur. Für mich war es ein Kompliment "nicht mehr so auszusehen wie ich" - genau das wollte ich ja. Selbst als eine Freundin (die unter Magersucht litt und sich deshalb in Therapie befand) sagte, dass ich dieselben Verhaltensmuster wie sie an den Tag legte, klingelte nichts bei mir. Ich dachte eher, dass sie das nur sagte, damit sie eine Leidensgenossin hatte. Wenn ich in den Spiegel sah, sah ich nicht, dass ich nur noch 46kg wog, ich sah nicht, dass meine Rippen deutlich zu sehen waren, ich sah nicht, dass ich auf einem ganz gefährlichen Weg war. An manchen Tagen verzichtete ich den Großteil des Tages aufs Essen und genehmigte mir ab und an ein Stück Apfel. Ich durfte nicht mehr essen, selbst wenn ich wollte, denn sonst bekam ich Schuldgefühle.

Bis zu dem Zeitpunkt hatten meine Eltern kaum etwas davon mitbekommen. Sie wussten zwar, dass ich abgenommen hatte (das sah man schließlich), sie wussten aber nicht, wie schlimm die Situation war weil ich alles heimlich tat. Dazu muss man sagen, dass das oben genannte Verhalten nicht täglich präsent war, an manchen Tagen aß ich ganz normal, dafür aß ich dann an anderen Tagen so gut wie nichts. Eines Tages kamen meine Eltern zufällig ins Badezimmer als ich aus der Dusche kam. Meine Eltern waren so erschrocken, dass sie von da an mein Essverhalten kontrollierten und ich schnell wieder ganz normal gegessen habe und seit dem auch nie wieder auf das Verhalten zurückgegriffen habe. Ich weiß heute, was ich für ein Glück hatte, dass meine Eltern früh genug erkannt hatten, dass meine Einstellung zum Essen alles andere als "normal" war. Ich denke, wäre mein Verhalten noch ein paar Wochen so weiter gegangen, hätte ich es ohne therapeutische Hilfe nicht geschafft, wieder normal zu essen. Für mich war es quasi nur eine "Phase" aber für Betroffene ist genau das eben nicht der Fall, keine Phase aus der man mal eben so wieder raus kommt, indem man mehr isst.


Heute blicke ich auf diese Zeit zurück und finde es unfassbar traurig, dass ich mich mit 14 Jahren so gefühlt habe und dachte, dass ich abnehmen muss. Damals wusste ich nicht, was Magersucht ist, erst im Laufe meines Studiums ist mir klar geworden, dass ich den Kriterien einer Magersucht entsprach (was nicht bedeutet, dass ich magersüchtig war, da dies nie ärztlich abgesprochen wurde). Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, dass für mich damals die Situation schon sehr intensiv war, aber wie verworren und einnehmend müssen die Gedankenstrukturen eines Betroffenen dann sein? Weitaus schlimmer. Ich möchte, wie gesagt, mir nicht anmaßen, meine Situation mit der eines Betroffenen gleichzusetzen. Eben genau weil ich mit der "Hilfe" meiner Eltern genanntes Verhalten ablegen konnte, was bei Betroffenen definitiv nicht der Fall ist. Ich möchte lediglich darauf aufmerksam machen wie mich meine Besessenheit mit Essen und meine Gedankenstrukturen manipuliert haben. Bitte differenziert das, wenn ihr diesen Blog Beitrag lest, das Krankheitsbild eines Betroffenen ist deutlich schlimmer und ich möchte mit meiner Geschichte nichts verharmlosen, sondern nur verdeutlichen welche Gedanken und welches Handeln zu einer Essstörung führen kann. Deshalb ist es ganz wichtig zu verstehen, dass Magersucht kein Trend oder auf die leichte Schulter zu nehmen ist, sondern eine ernstzunehmende psychische Krankheit darstellt.


Warum ist Magersucht so gefährlich?

Laut DSM-V ist Untergewicht (BMI unter 17) ein Kriterium für die Diagnose von Anorexia nervosa. Auch in der breiten Öffentlichkeit ist das Bild von einem magersüchtigen Menschen, dass er besonders dünn ist. Das ist aber ein Problem, denn die Magersucht fängt ja nicht erst an, wenn das Untergewicht schon erreicht ist. Deshalb möchte ich mich auf ein Zitat einer Followerin beziehen, die auf unsere Instagram Story geantwortet hat. „Kein BMI der Welt sagt dir, wie krank du bist.“ Und genau das ist der Punkt. Das Beispiel über mich macht deutlich klar, dass eine Essstörung nicht auf der Waage, sondern in Kopf anfängt. Man muss nicht erst zwischen 35-40 kg wiegen, damit man eine Essstörung hat, man kann sogar auch mit Übergewicht anorektisch sein, weil ein rasanter mit Absicht hervorgerufenen Gewichtsverlust von rund 15% seines Ausgangsgewichts als Kriterum reicht, um anorektisch zu sein. Wenn man sich das Wort "Magersucht" anschaut, und auseinander nimmt, sagt das nur aus, dass Betroffene süchtig danach sind sich abzumagern, nicht dass man dafür einen BMI von 17 haben muss. Das soll nicht bedeuten, dass viele Betroffene nicht stark untergewichtig sind, das ist definitiv der Fall. Aus diesem Grund gibt es das typische Bild einer/eines Magersüchtigen. Es gibt aber eben auch den Fall, dass man der Person nicht ansieht, dass sie eine Essstörung hat. Ich finde persönlich, dass die psychischen Symptome in den Kriterien des DSM-5 viel zu wenig zur Geltung kommen.


Therapiemöglichkeiten

Ziel einer Therapie ist die gezielte und kontrollierte Gewichtszunahme im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie. Diese kann ambulant oder in schweren Fällen stationär stattfinden. Die Rückfallrate bei Magersucht ist relativ hoch. Da die Verhaltensmuster schwerer abzulegen sind, je länger man sie einübt, ist es wichtig, die Krankheit frühzeitig zu erkennen.


Kleiner Appel zum Schluss

Magersucht gehört zu den psychischen Krankheiten mit der höchsten Sterberate. Jeder zehnte Betroffene stirbt an den schlimmen körperlichen Folgen der Krankheit. Es ist wichtig zu wissen, wie gefährlich die Krankheit ist, damit man die Zahl der an Magersucht erkrankten Menschen auf ein Minimum reduzieren kann. Bitte denkt zehnmal nach, bevor ihr jemandem sagt, er hätte zugenommen, und bitte nehmt die Warnzeichen einer Essstörung ernst. Obwohl Magersucht eine der höchsten Sterberaten hat, gehört die Krankheit immer noch zu den Krankheiten, die am meisten unterschätzt werden. Wenn ihr merkt, wie ein Freund oder eine Freundin ein gestörtes Verhältnis zu Essen entwickelt, dann seid aufmerksam.




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