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Klinische Basics #6 Schizophrenie

Aktualisiert: 14. Juni 2021

von Nele Franzen


Fallbeispiel Emma:

Emma ist 16 Jahre alt und geht in die 10. Klasse eines Gymnasiums. Sie ist ehrgeizig und hat hohe Ansprüche an sich selbst. Um gute Noten zu erreichen, lernt sie jeden Tag exzessiv; manchmal fühlt sie sich wie in einem "Film", da es in letzter Zeit so extrem geworden ist. Ihr enormes Verlangen nach Erfolg führt zu Panikattacken vor wichtigen Klausuren. Während dieser Zeit ist ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Erfolg und Leistung gerichtet. Sogar ihre Familie und Freunde rücken in den Hintergrund. Emma lebt sozial zurückgezogen. Eines Tages begleitet Emma ihre Familie auf eine Familienfeier. Dort fallen Emma ganz komische Dinge auf. Ihre Tante verhält sich seltsam, in einer Diskussion war sie ganz bizarr. Ihrem Bruder fällt das nicht auf, er ist von Emmas Verhalten verwirrt. Sie verdreht Tatsachen und spricht komisch, so desorganisiert. In den nächsten Tagen leidet Emma sehr unter Schlafproblemen, sie fühlt sich gestresst, hat Angst und fühlt sich gefangen in ihren Gedanken. Jede Situation wird bis ins kleinste Detail analysiert, was sie sehr anstrengt. In den nächsten Wochen werden die Schlafstörungen immer schlimmer. Außerdem ist sie sich sicher, dass die Putzfrau ihrer Patentante einen schlimmen Plan schmiedet. Insgeheim, glaubt Emma, möchte die Putzfrau ihre Patentante umbringen. Außerdem haben ihre Eltern Kameras in ihrem Zimmer angebracht um Emma zu beobachten, sie fühlt sich sehr unwohl. Immer wieder bemerkt Emma wie Moderatoren oder Schauspieler im Fernseher oder Radio kleine Nachrichten für sie überbringen und sie direkt ansprechen. Emma ist überzeugt davon, verfolgt zu werden, daran besteht kein Zweifel. Langsam verliert Emma das Gefühl für Raum und Zeit. „Ist Weihnachten schon vorüber?" fragt sie ihren Bruder im November. Als Emma die Diagnose Schizophrenie bekommt ist sie 16 Jahre alt.


Dieser kleine Einstieg ist nicht frei erfunden. Während meines Studiums durfte ich Emma (der Name wurde geändert, um ihre Anonymität zu wahren) interviewen. Ich habe Emma gefragt, ob ich ihre Geschichte benutzen darf, um euch zu zeigen, wie die Welt aus der Sicht von jemandem aussieht, der an Schizophrenie leidet, und sie hat eingewilligt. Im weiteren Verlauf werde ich immer wieder auf Emma zurückkommen, um euch die Krankheit an dem Beispiel besser zu erklären.


Was ist Schizophrenie?

Die Schizophrenie gehört zu den Psychosen. Psychosen sind psychische Krankheiten, bei denen Betroffene eine verzerrte Wahrnehmung haben und die Realität verändert wahrnehmen. Die Schizophrenie setzt sich aus einer Vielfalt von psychotischen Symptomen zusammen. Generell unterscheidet man zwischen positiven, negativen und desorganisierten Symptomen.

Das klingt ja erstmal verwirrend- positiv und negativ? Gibt es gute und schlechte Symptome? Die Antwort ist leider nein. Positive Symptome sind Symptome die zu dem "normalen" Verhalten hinzukommen, also Verhalten, welches man sonst nicht hat, aber durch die Psychose ausgelöst wird. Negative Symptome beschreiben Defekte im "normalen Verhalten", also Verhalten, welches man normalerweise ausüben würde, fällt weg. Desorganisierte Symptome sind Symptome, welche die Sprache, motorisches Verhalten und emotionale Reaktionen betreffen.


Positive Symptome:

Zu den positiven Symptomen gehören Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Halluzinationen sind das Erleben von sensorischen Reizen, die nicht vorhanden sind. Betroffene hören, schmecken oder sehen etwas, das gar nicht da ist. Die häufigsten Halluzination sind auditive Halluzinationen - vereinfacht "Stimmen hören".

Als Wahnvorstellung beschreibt man die Fehlinterpretation der Realität. Betroffene sind von der Korrektheit dieser Gedanken überzeugt, das bedeutet, dass Betroffene ihre Gedanken und Wahnvorstellungen nicht hinterfragen. Für sie steht fest, dass die Wahnvorstellung wahr ist. Offensichtlich merken Betroffene auch nicht, dass sie unter Wahnvorstellungen leiden. Eine der häufigsten Wahnvorstellungen ist der Verfolgungswahn. Auch Emma litt am Verfolgungswahn- ihre Eltern hatten keine Kamera in ihrem Zimmer angebracht und sie wurde auch von Niemandem verfolgt. Außerdem litt Emma am Referenzwahn. Referenzwahn heißt, dass Betroffene davon ausgehen, Erlebtes sei eine direkte Botschaft für sie. Emma war zum Beispiel davon überzeugt, dass Menschen im Fernsehen direkt zu ihre sprechen oder ihr eine Nachricht überbringen wollen.

Die Vorstellung, dass die Putzfrau von Emmas Patentante diese umbringen möchte, zählt auch zu den Wahnvorstellungen. Emma litt nicht unter Halluzination, dafür aber unter starken Wahnvorstellungen. Es gibt noch weitere Arten von Halluzinationen und Wahnvorstellungen, auf die wir bei unserem Instagram-Kanal @verkopftimkopf eingehen werden.


Desorganisierte Symptome:

Desorganisierte Symptome betreffen die Motorik und beschreiben eine Reihe an verschiedenen irregulären Bewegungen. Darunter zählen desorganisierte Sprache, unangemessener Affekt und katatonisches Verhalten. Betroffene, die unter desorganisierter Sprache leiden, zeigen oft Kommunikationsprobleme. Sie springen zum Beispiel von Thema zu Thema, antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden, oder wechseln einfach ungefragt das Thema. Unangemessener Affekt beschreibt unangebrachte emotionale Reaktionen. Beispielsweise lachen Betroffene ernsten Situationen oder weinen in fröhlichen.

Katatonie oder katatonisches Verhalten beschreibt eine veränderte Immobilität. Betroffene verharren in einer Position über mehrere Stunden oder wiederholen eine bestimmte unnatürliche Bewegung lange Zeit. Emma litt unter desorganiserter Sprache. Dieses Symptom ist ihrem Bruder zum ersten Mal nach der Familienfeier aufgefallen. Auf dem Weg nach Hause konnte Emma nicht erklären, warum sie das Verhalten ihrer Tante seltsam fand und ist von Thema zu Thema gesprungen.


Negative Symptome:

Wie bereits erklärt sind negative Symptome Defekte im "normalen Verhalten". Zu der negativen Symptomen gehören: Affektverflachung (Verminderung von Gemütserregung, starre/leblose Ausdrücke, kein Augenkontakt, monotone Stimme), Alogie (verringerte sprachliche Ausdrücke) , Anhedonie (Mangel an Interesse), Asozialität (Sozialer Rückzug, Rückgang der Motivaton für Soziale Kontakte), und Avolition (Mangel an Motivation).


Auch Emma litt an negativen Symptomen, die aber nicht in ihrem Fallbeispiel deutlich werden. Und das hat auch einen Grund: Oft leiden die Betroffenen an einer akuten Psychose, in der die positiven Symptome überwiegen. So auch bei Emma. Nachdem Emma in eine psychiatrische Klinik überwiesen wurde, litt sie noch zwei Wochen an positiven Symptomen, bis die Medikamente richtig eingestellt waren. Danach litt Emma an Affektverflachung- sie erzählte mir, dass sie keine Emotionen zeigen konnte. Selbst, wenn sie in einer bestimmten Situation Emotionen empfunden hat, zum Beispiel Freude, konnte sie dieses Gefühl nicht ausdrücken.


Um mit Schizophrenie diagnostiziert zu werden, müssen bestimme Kriterien erfüllt werden. Von den oben genannten Symptomen müssen mindestens zwei Symptome auftreten, wovon mindestens ein Symptom Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder desorganisierte Sprache ist. Außerdem müssen die Symptome eine signifikante Verschlechterung der Lebensqualität auslösen. Die Symptome dürfen nicht durch eine andere psychische Krankheit oder Drogen erklärt werden.


Wie entsteht Schizophrenie?

Die genauen Gründe, wodurch eine Schizophrenie entsteht, sind bisher noch nicht geklärt. Dennoch gibt es Tendenzen. Es gibt eine genetische Komponente, welche das Risiko an Schizophrenie zu erkranken erhöht. Studien mit Familien zeigen: Je schlimmer die Schizophrenie bei einem Familienmitglied ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass ein weiteres Familienmitglied erkrankt. Das höchste Risiko besteht, wenn der Zwillingsbruder/ -schwester an Schizophrenie erkrankt ist. Bei Zwillingen steigt die Wahrscheinlichkeit auf 50%, dass der "nicht erkrankte" Zwilling auch an Schizophrenie erkrankt. Außerdem kann man Träger der genetischen Komponente sein, aber selbst nicht erkranken. Auch das soziale Umfeld spielt eine Rolle, schlimme Erfahrungen in der frühkindlichen Entwicklung können ein Trigger für Schizophrenie sein. Ein weiterer Trigger kann Stress sein. Die Symptome einer Psychose verschlechtern sich unter Stress. Oft führt erhöhter Stress (wie bei Emma der Druck wegen der Klausuren) nach einer negativen Erfahrung zu den ersten psychotischen Symptomen. Viele Kriegsveteranen leiden an "Schizophrenie-ähnlichen Symptomen". Auch Emmas Ärzte vermuten, dass der Stress und der Druck, den Emma wegen der Schulnoten empfunden hat, die ersten psychotische Phase ausgelöst hat.


Dopamin-Hypothese:

Da ich schon oft mitbekommen habe, dass viele denken, psychische Erkrankungen hätten nichts mit dem Gehirn zutun, möchte ich jetzt gerne nochmal über unsere Schaltzentrale sprechen. Die Dopamin-Hypothese besagt, dass Betroffene zu viel Dopamin im Gehirn haben, eine Hyperaktivität. Als wir über Depressionen gesprochen haben, haben wir ja bereits geklärt, dass ein Serotonin-Mangel zu Depressionen führen kann. Wie sieht es also aus, wenn man zu viel von dem Neurotransmitter Dopamin hat? Dopamin ist für eine Vielzahl von Körperreaktionen verantwortlich, so etwa für die Feinmotorik oder die Körperbewegung, aber auch für psychischen Antrieb, Wohlbefinden, Lebensfreude, Mut, Konzentration und Vergnügen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass eine Überproduktion von Dopamin die psychotischen Symptome auslöst. Ein sehr interessanter Beweis dafür ist, dass Patienten mit zu wenig Dopamin an physischen Krankheiten leiden, welche die Motorik einschränken, wie zum Beispiel Parkinson. Schizophrenie-Patienten bekommen antipsychotische Medikamente, welche die Dopaminausschüttung im Gehirn blockieren. Als Konsequenz leiden viele als Nebenwirkung an Parkinson-ähnlichen Symptomen. Dasselbe gilt für Parkinson Erkrankte: Sie bekommen Dopamin-Agonisten (Medikamente, welche die Dopaminausschüttung unterstützen und verstärken) und leiden oft unter psychotischen Symptome.


Therapie:

Zu Beginn ist es sehr wichtig zu klären, dass Schizophrenie eine chronische Krankheit ist und Betroffene meistens sehr unter dem Leben in der Gesellschaft leiden. Das bedeutet nicht, dass Betroffene ihr Leben lang unter den Symptomen leiden müssen, aber es bedeutet, dass Betroffene meist ihr Leben lang antipsychotische Medikamente einnehmen müssen, damit keine weitere Psychose getriggert wird. Es kann sein, dass Erkranke nur einmal im Leben eine psychotische Phase (akute Psychose) haben, es kann aber auch leider sein, dass Erkrankte Rückfälle haben und die meiste Zeit in ihrem Leben sehr stark unter der Krankheit leiden. Die Therapie der Schizophrenie ist generell in drei Teile unterteilt: kognitive Verhaltenstherapie (Individuell, Gruppentherapie und Familientherapie), Training für die sozialen Kompetenzen und Medikation. In der kognitiven Verhaltenstherapie lernen die Betroffenen, mit ihrer Krankheit umzugehen, die Familie lernt Kommunikationsstrategien und Erkrankte lernen, welche Trigger (z.B. Stress) zu vermeiden sind. Während der Trainings lernen Betroffene, wie sie mit ihrem sozialen Umfeld umgehen können, und bekommen Alltagshelfer an die Hand. Als Medikation bekommen Betroffene Antipsychotika, also Dopamin-Antagonisten damit die postiven Symptome (Halluzinationen und Wahnvorstellungen) verringert werden.


Zurück zu Emma. Emma verbrachte insgesamt drei Monate in einer psychiatrischen Einrichtung. Dort unterzog sie sich einer kognitive Verhaltenstherapie, war Teil einer Gruppentherapie und lernte während des Trainings, wie sie mit der Diagnose Schizophrenie klarkommen kann. Zu dem Zeitpunkt, als das Interview stattfand, war die Psychose drei Jahre her. Drei Jahre nach der Diagnose nahm Emma weiterhin ihre Medikamente, hatte einmal im Monat eine Therapiesitzung und einmal alle drei Monate traf sie ihren Psychiater. Emma hat von Anfang an sehr viel Unterstützung von ihrer Familie erfahren und ist sehr verbunden mir ihr. Heute studiert Emma und führt ein normales Leben. Während unserem gesamten Interview wirkte Emma, nicht wie die Emma aus dem Fallbeispiel. Sie war fröhlich und aufgeschlossen, es ging ihr gut. Sie erzählte mir, dass sie offen mit ihrer Diagnose umgeht und viel Unterstützung von ihren Freunden bekommt. Sie hatte einen guten Weg gefunden mit der Diagnose klarzukommen- und auch mit dem Stigma, welches die Krankheit leider mitbringt.


Und da sind wir schon bei meinem letzten Punkt angekommen: Dem Stigma. Unser gemeinsames Ziel sollte sein, dass psychische Krankheiten von der Gesellschaft genau so viel Aufmerksamkeit und Verständnis bekommen wie körperliche Krankheiten. Leider werden Betroffene, die an einer Psychose leiden, schnell als "verrückt", oder "geisteskrank" betitelt (gerade, wenn man akut Betroffene in der Öffentlichkeit sieht), Begriffe die sehr negativ konnotiert sind. Behaltet im Hinterkopf, dass die Betroffenen krank sind und auf unsere Unterstützung, der Unterstützung der Gesellschaft, angewiesen sind. Wir müssen so leben, dass wir, wenn wir an einer Psychose erkranken, auf die selbe Unterstützung hoffen können. Mehr zum Thema Schizophrenie erfahrt ihr in den nächsten Tagen auf unserem Instagram Kanal @verkopftimkopf.


85 Ansichten1 Kommentar

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1 Comment


Caro
Caro
Mar 03, 2021

Das ist einer der ersten Artikel seit langem, in dem ich mich wiederfinde und der Menschen mit meiner Krankheit nicht als unverständlich, fremd und potentiell bedrohlich darstellt. Danke dafür!

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