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Klinische Basics #5: Dissoziative Identitätsstörung

Aktualisiert: 14. Juni 2021

von Paula Küppers


Billi öffnet selbstbewusst die Tür und zeigt ihre Wohnung. Sie lacht viel, erzählt über sich selbst und ihr Leben und scheint mit sich selbst im Einklang. Mitten im Gespräch wird sie auf einmal aus der Bahn geworfen, sie fasst sich an die Schläfen, ihr Blick schweift in die Ferne. Plötzlich spricht nicht mehr Billi, sondern Bart, ein Junge im Teenager-Alter. Von außen betrachtet sieht sein Körper immer noch aus wie Billi - aber seine Stimme, seine Körperhaltung, seine Art zu erzählen, das alles ist auf einmal anders.


Was ist DIS?

Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist eine psychische Krankheit, bei der in einem Körper mehrere Persönlichkeiten wohnen. Billi und Bart sind Teil eines Systems von mehr als 20 Persönlichkeiten, die sich alle denselben Körper teilen. Die Persönlichkeiten haben unterschiedliche Charakterzüge, mögen anderes Essen, hören andere Musik, sehen anders aus, haben unterschiedliche Geschlechter und Alter und sogar unterschiedliche Allergien. Das ist für Menschen, die diese Krankheit nicht haben, sehr schwer vorstellbar: Tut Billi nur so, als wäre sie jemand anders? Stellt sie sich alles nur vor? Ich habe doch auch unterschiedliche Persönlichkeiten, wenn ich mit meinen Eltern vs meinen Freunden spreche - ist das nicht dasselbe? Diese Fragen wollen wir heute beantworten. Die Situation oben habe ich übrigens aus einem Video übernommen. Wenn ihr so gar keine Vorstellung habt, wie die DIS aussieht, könnt ihr dort mal gucken, wie es sich damit lebt.


Entstehung

Um die DIS zu verstehen, fängt man am besten ganz am Anfang an: In der Kindheit. Als kleines Kind hat man noch keine stabile Vorstellung von sich selbst und seiner Persönlichkeit. Wenn nichts dazwischen kommt, entwickelt sich bei den meisten von uns erst im Alter von fünf bis acht Jahren so ein stabiles Selbstbild. „Ich bin Paula, ich mag gerne Erdbeereis, spiele am liebsten Monopoly und habe Angst davor, vom Dreimeterbrett zu springen“- dass dieses Bild, das ein Kind von sich selbst hat, zeitlich überdauernd bestehen bleibt, dauert einfach eine Weile. Vielleicht auch deshalb, weil man erstmal rausfinden muss, wer man ist, was man gerne macht und wie man zur Welt um sich herum steht.


Stellen wir uns vor, ein Kind macht in diesem jungen Alter, bevor seine Persönlichkeit sich gefestigt hat, immer wieder sehr schlimme Erfahrungen, zum Beispiel durch Gewalt, Misshandlung oder Missbrauch. Dann kann es sein, dass sich für die verschiedenen Situationen, die das Kind erlebt, verschiedene Persönlichkeiten bilden. Die eine ist beispielsweise zum Spielen da, sie hat keine schlimmen Erinnerungen und kann sich ganz darauf "spezialisieren", ein glückliches Kind zu sein. Die andere Persönlichkeit ist vielleicht immer dann aktiv, wenn das Kind eine Gewalterfahrung macht- sie ist die „starke“ Persönlichkeit, die alles aushält und die schlimmen Erinnerungen in sich hat. Dadurch, dass die traumatischen Erfahrungen nur in der einen Persönlichkeit „gespeichert“ sind, kann die andere trotz des Traumas normal weiterleben. Durch das Aufsplitten schützt sich die Psyche also selbst - nur so ist es für das Kind möglich, den Missbrauch auszuhalten. Dabei ändert sich sogar sichtbar die Hirnanatomie.


Leben mit DIS

Ist die stabile Persönlichkeitsentwicklung einmal gestört, kann es sein, dass sich die Persönlichkeit in Stresssituationen immer wieder aufsplittet. Da jede Traumaerfahrung unterschiedlich ist, haben die Persönlichkeiten unterschiedliche Eigenschaften- immer genau die, die es braucht, um mit dem Trauma bestmöglich klarzukommen. So entstehen ganze Persönlichkeitssysteme- wie eine große WG, die sich statt einer Wohnung einen Körper teilt. Die verschiedenen Persönlichkeiten können auch untereinander kommunizieren. Betroffene nehmen die Persönlichkeiten manchmal als unterschiedlich laute „Stimmen“ wahr, die alle ihr eigenes Bewusstsein und Eigenleben haben. Es kann sein, dass man auf der Couch sitzt und Fernsehen guckt, und plötzlich entscheidet eine Stimme, dass sie jetzt einen Kaffee möchte. Zehn Minuten später sitzt man mit einem Kaffee in der Hand auf der Couch und weiß nicht, warum man die Handlung im Film auf einmal nicht mehr versteht. (Dieses und andere Beispiele findet ihr in diesem Betroffenenbericht)


Erinnerungslücken

Die Anekdote illustriert einen ganz wichtigen Punkt zur Diagnose der DIS: Erinnerungslücken. Wenn eine Persönlichkeit die Handlung übernimmt, weiß die andere später oft nicht, was in dieser Zeit passiert ist. Und da haben wir auch schon die Erklärung für eine der Fragen am Anfang: Dass man selbst manchmal das Gefühl hat, die Persönlichkeit ist wie ausgewechselt, ist nicht dasselbe, wie eine DIS zu haben. Leider sind die switches zwischen den Persönlichkeiten meist nicht wie oben ganz harmlos, sondern für die Betroffenen extrem anstrengend. Oft werden sie durch Stresssituationen oder Erinnerungen an traumatische Ereignisse hervorgerufen.


Trauma und Dissoziation

Das Leben mit einer DIS kann belastend sein, denn die meisten Patienten (bzw. viele ihrer Persönlichkeiten) leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Panikattacken sind keine Seltenheit, alltägliche Dinge können Flashbacks hervorrufen und Angstzustände auslösen. Wie für viele andere Trauma-Patienten ist es für sie schwierig, ein "normales" Leben zu führen. Billi aus dem Video oben kann sich nicht einmal ein Eis holen, ohne, dass die Erinnerung an ihr Trauma hochkommt. Für Menschen, die ein Trauma erlebt haben, sind diese Flashbacks so real, als würden sie die Gewalterfahrung noch einmal durchleben. Man kann sich vorstellen, wie schlimm das für Betroffene ist. Gerade schlimme Erfahrungen, die während der Kindheit gemacht wurden, können Gefühlen von vollkommener Schutzlosigkeit auslösen, die man eigentlich nicht Tag für Tag erneut durchleben möchte.


Durch die Verbindung zur Posttraumatischen Belastungsstörung erklärt sich auch der Name der DIS: Die switches sind oft von Dissoziation begleitet. Dissoziation erlebt jeder Mensch in mehr oder weniger abgeschwächter Form im täglichen Leben. Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr eine richtig gute Serie schaut und auf einmal alles um euch herum vergesst? Das ist eine leichte Form von Dissoziation. DIS- und Trauma-Patienten erleben Dissoziation regelmäßig und sehr viel heftiger. Es fühlt sich an, als ständen sie neben sich und würden von außen auf ihren Körper schauen. Die Realität fühlt sich nicht mehr echt an. Dissoziationen können durch die traumatischen Erinnerungen ausgelöst werden.


Diagnose und Verwechslungsgefahr

Viele Betroffene leben lange Jahre mit einer DIS, ohne dass andere Leute viel davon mitbekommen. Manchmal wissen sie selbst auch gar nicht von der Krankheit, sondern fühlen sich nur „anders“ und wundern sich über Aussetzer im Alltag. Nur wenige Psychologen sind geschult darin, eine DIS zu erkennen und sie zu therapieren- deshalb bleibt die Störung lange unerkannt oder wird falsch diagnostiziert. In der Umgangssprache merkt man auch, dass bis jetzt viel zu wenig über die DIS bekannt ist: Wenn man im Alltag sagt, jemand oder etwas sei „schizophren“, meint man meist, dass er unterschiedliche Persönlichkeiten hat. Schizophrenie und DIS kann auf den ersten Blick auch leicht verwechselt werden. Auch bei Schizophrenie kann es vorkommen (muss aber nicht), dass Betroffene Stimmen im Kopf haben, die ihr Handeln kommentieren. Dabei sind die Stimmen aber keine vollständigen und stabilen Persönlichkeiten, die sich regelmäßig mit dem Handeln abwechseln, sondern Wahnvorstellungen, die durch einen Dopaminüberschuss im Gehirn ausgelöst werden. Auch körperlich unterscheiden sich die Schizophrenie und die DIS also stark. Auf die Schizophrenie werden wir in einem nächsten noch Blogartikel genauer eingehen.


DIS-Patienten sind nicht gefährlich!

Wie die Schizophrenie wird auch die DIS in den Medien oft als bedrohlich dargestellt. In dem Film „Split“ zum Beispiel hat der Mörder verschiedene Persönlichkeiten. Dabei ist es ganz wichtig zu wissen: Betroffene sind nicht gefährlich und nicht verrückt. Die meisten Menschen mit einer DIS verstecken ihre Störung sogar vor anderen, auch aus Angst vor Stigmatisierung. Wie man in dem oben verlinkten Video auch sieht, kann es in DIS- Persönlichkeitssystemen Persönlichkeiten geben, die eine Beschützerrolle einnehmen und dann eher aggressive Charaktereigenschaften haben. Oder es gibt Persönlichkeiten, die aus Selbstschutz Solidarität mit dem Abuser zeigen, wie auch in diesem Video erklärt wird. Für andere Menschen geht aber keine Gefahr aus.


Therapie

In einer Therapie wird versucht, Betroffenen Strategien an die Hand zu geben, wie sie ihren Alltag besser bewältigen können. Das Ziel ist nicht unbedingt, aus den verschiedenen Persönlichkeiten wieder eine einzige zu machen. Es kann sein, dass manche Persönlichkeiten im Laufe der Behandlung näher zusammenrücken und „verschmelzen“- das Hauptziel ist aber, eine gute Kommunikation oder eine Art „Einklang“ zwischen den Persönlichkeiten zu schaffen und vor allem auch die Therapie der Aufarbeitung der Traumaerfahrungen. Übrigens haben schätzungsweise 1- 1,5% der Bevölkerung eine DIS. Die Krankheit ist also gar nicht so selten, weshalb es doppelt schlimm ist, dass so wenige Psychotherapeuten für ihre Behandlung ausgebildet sind.


So, jetzt habt hoffentlich ihr einen groben Überblick darüber, was die DIS ist, wie sie (vermutlich) entsteht und wie Betroffene damit umgehen können. Natürlich ist dieser Artikel nur ein kurzer Abriss der wichtigsten Infos, und viele Bereiche der DIS sind noch nicht vollständig erforscht. Wenn euch das Thema interessiert, würde ich euch auf jeden Fall empfehlen, die verlinkten Videos anzuschauen. Außerdem gibt es aus dem englischsprachigen Raum auch einige Blogger mit DIS, die ganz offen mit der Störung umgehen und dabei helfen, sie zu entstigmatisieren. Mehr erfahren könnt ihr zum Beispiel bei den Creatorn ohyeswedid auf Tik Tok oder DissociaDID auf YouTube.


Wie ich oben schon erwähnt habe, wollen wir direkt im nächsten Beitrag auf die Krankheit Schizophrenie genauer eingehen, weil sie so oft mit der DIS verwechselt wird und beide Krankheiten in den Medien sehr negativ dargestellt werden. Danach wollen wir den Film "Split" genauer unter die Lupe nehmen und damit unsere neue Rubrik "Filmanalysen" starten.


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