von Nele Franzen
Wenn Menschen die Begriffe "Narzisst" oder "Narzissmus" benutzen, haben sie eine gewisse Vorstellung davon, was sich dahinter verbirgt - "Trump ist so ein Narzisst". Dieser Aussage möchte ich auch gar nicht widersprechen, aber so leicht wie es, bei Trump zu erkennen ist, dass er ein Narzisst ist, ist es nicht immer. Warum das so ist, erkläre ich euch in diesem Artikel.
Während des Lesens wird euch bestimmt auffallen, dass dieser Beitrag anders ist als die vorherigen Artikel aus der Rubrik #klinischebasics. Als wir über Depressionen und Zwangsstörungen geschrieben haben, haben wir dies immer aus der Perspektive des Betroffenen getan oder uns an die Betroffenen gewandt. Diesmal habe ich mich aber dazu entschieden, nicht aus der Perspektive des Narzissten zu schreiben, da es nicht so einfach möglich ist, die Perspektive anzunehmen. Es gibt leider nur wenige Aufzeichnungen und Beschreibungen dazu, wie die Denkstrukturen eines Narzissten wirklich aussehen. Das liegt daran, dass Narzissten so gut wie nie psychologische Hilfe aufsuchen, weil die Krankheit keine Belastung für den Betroffenen darstellt. Deshalb gibt es auch wenige Studien, da keine Probanden vorhanden sind. Im heutigen Artikel möchte ich dagegen stärker auf die „Opfer“ von Narzissten eingehen.
Was ist Narzissmus?
Narzissmus gehört zu den psychischen Krankheiten, die den Persönlichkeitsstörungen zuzuordnen sind. Um genau zu sein, gehört Narzissmus zu den Cluster-B Persönlichkeitsstörungen, die durch ihre Emotionalität, Sprunghaftigkeit und Dramatik gekennzeichnet sind. Dem Narzissten kann man ganz bestimmte Charakteristika zuordnen- diese bilden die Kriterien, um mit Narzissmus diagnostiziert zu werden. Aus den folgenden Kriterien müssen mindestens fünf zutreffen damit, nach dem DSM-5 die Diagnose "Narzisst" zutrifft:
Narzissten haben ein übertriebenes Gefühl ihrer eignen Wichtigkeit. Narzissten erwarten, dass andere ihre Überlegenheit und Talente bemerken, ohne dass sie selbst auch entsprechende Leistungen erbringen. Des weiteren haben Narzissten Phantasien von grenzenlosem Erfolg, Macht, oder idealer Liebe. Außerdem gehen sie von der Annahme aus, dass sie etwas ganz Besonderes sind und weil das so ist, sie nur von "ganz besonderen" Menschen verstanden werden. Sie erwarten von ihren Mitmenschen, dass sie sie übermäßig bewundern, sie deshalb besonders bevorzugt behandeln und dass sofort auf ihre Bedürfnisse und Wünsche eingegangen wird. Oft nutzen Narzissten ihre Mitmenschen für ihre eigenen Erfolge aus, ohne auf die Bedürfnisse anderer zu achten- das wird gerade dadurch deutlich, dass Narzissten mangelnde Fähigkeit zur Empathie haben. Das bedeutet, dass Narzissten ihre Mitmenschen entweder nicht verstehen möchten oder sich nicht mit deren Gefühlen und Bedürfnissen identifizieren können.
Oft verhalten Narzissten sich arrogant und überheblich, weil sie entweder neidisch auf ihre Mitmenschen sind oder denken, andere wären neidisch auf sie. Das größte Problem ist aber, dass Narzissmus für die Betroffenen keine oder fast keine Belastung darstellt, da sie aus ihrer Sicht den Nabel der Welt darstellen. Aus diesem Grund sind Narzissten auch nicht in der Lage, sich zu entschuldigen oder Fehler einzugestehen. Da die Krankheit so gut wie keine Belastung darstellt, suchen Betroffene so gut wie nie therapeutische Hilfe auf. Wenn sie dies doch tun, dann aufgrund von Mitmenschen aus ihrem Umfeld oder weil sie noch unter einer anderen psychischen Krankheit leiden, die eine Belastung darstellen.
Anhand dieser Symptome könnt ihr euch bestimmt vorstellen, dass es für das engere Umfeld, Arbeitskollegen etc. sehr schwierig werden kann, mit Narzissten zu interagieren. Aber warum sind Narzissten gefährlich?
Fallbeispiel
#triggerwarnung: emotional abuse
Julia und Tim sind erst seit Kurzem zusammen. Weil es so gut passt und Tim Julia auf Händen trägt, ziehen sie schon nach drei Monaten Beziehung spontan zusammen- sie haben den gleichen Arbeitsplatz und es ist günstiger, sich die Miete zu teilen. Julia ist super glücklich: Tim ist so charmant und aufmerksam, wie sie es vorher noch nie erlebt hat. Sie weiß noch nicht, dass sie mit dem Umzug in ihrer persönlichen Hölle gelandet ist.
Alles fängt an einem Mittwochmorgen an. Julia ist schon los zur Arbeit, weil sie an einem wichtigen Projekt arbeitet. Tim hatte vergessen, sich selbst noch einen Wecker zu stellen, obwohl er weiß, dass Julia vor ihm das Haus verlassen muss. Er verschläft und kommt zu spät zur Arbeit. Im Büro läuft Julia sofort besorgt auf ihn zu und fragt, wo er gesteckt habe. Tim schaut sie an und schreit dann vor versammelter Kollegschaft los: Wieso sie ihm nicht gesagt habe, dass sie früher zur Arbeit fährt?! Danach folgen Schuldzuweisungen wie "Du hättest mir früher Bescheid geben müssen", "Du musst Verantwortung für andere übernehmen" und "Wegen dir bin ich zu spät gekommen".
An diesem Mittwoch bleibt es nicht bei nur einem Zwischenfall. Tim hat auch noch sein Ladekabel vergessen und beschuldigt Julia, dass sie es weggeräumt habe- "weil du so unordentlich bist, habe ich es nicht gefunden". Julia ist so perplex und verwirrt über die Gefühlsausbrüche von Tim, dass sie gar nicht dazu kommt, sich zu verteidigen. So kennt sie doch "ihren Tim" gar nicht, der ihr sonst Frühstück ans Bett bringt und ihr haufenweise Komplimente und süße Geschenke macht.
Abends, als sie in ihre Wohnung kommt entschuldigt sie sich bei ihm. Sie sei so vertieft in ihr Projekt gewesen, dass sie nicht daran gedacht hatte, Tim nochmal an den Wecker zu erinnern (obwohl er eigentlich Bescheid wusste). Sie habe außerdem Tims Kabel nirgendwo gesehen.
Von diesem Tag an ist alles anders. Julia denkt nun immer drei mal darüber nach, was sie tut, damit der Vorfall sich nicht wiederholt. Trotzdem: Dieser Mittwoch ist erst der Anfang. Die Schuldzuweisungen werden immer intensiver und die Abstände zwischen Tims Ausbrüchen immer kürzer. Julia zweifelt mittlerweile an sich selbst. Warum macht sie alles falsch? Tim schafft es immer wieder, Sachverhalte so zu drehen, dass Julia die Schuldige ist. Immer mehr rückt Julia in die Rolle einer Nebendarstellerin in seinem Leben.
Tim braucht Julia aber, um sein Selbstwertgefühl und seine Wichtigkeit zu demonstrieren. Deshalb lässt er sie nie ganz los, hält sie zwar auf Abstand aber benutzt sie immer wieder für seine Zwecke. Er ist ja etwas "ganz Besonderes". Julia wird so unsicher, dass sie ihrem eigenem Gedächtnis misstraut, ihr Selbstwertgefühl sinkt von Tag zu Tag, sie weiß sich nicht zu helfen, weil Tim es schafft, dass Julia selbst daran glaubt, dass sie das Problem ist. Wenn Julia es wagt, etwas anzusprechen, droht Tim damit, die Beziehung zu beenden. Julia versucht nicht mehr, über ihre Gefühle zu reden, da Tim diese sowieso zurückweist, sich schnell angegriffen fühlt und sich nicht in Julia hineinversetzen kann. Julias Gefühle werden oft als Drama abgestempelt. Julia dient nur dazu, Tim zu applaudieren, ihn zu bewundern und zu bestätigen.
Natürlich ist das Beispiel nur ausgedacht, trotzdem gibt es viele Menschen, die genau so etwas tagtäglich erleben, da sie im Leben eines Narzissten gefangen sind. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung äußert sich natürlich nicht nur in der Beziehung, sondern auch im Alltag- die Partner von Narzissten sind dabei aber oft die, die am meisten Leid tragen, weil sie ihm am nächsten sind. Die Antwort darauf, warum Narzissten so gefährlich sind, ist, dass Narzissten in ihrer eigenen Realität leben, die Kontrolle über ihrer Realität behalten wollen und es dort keinen Platz für die Gefühle und Bedürfnisse andere gibt. Viele, die Opfer eines Narzissten wurden, begeben sich in therapeutische Behandlung.
Die erste Frage, die euch vermutlich in den Sinn kommt ist: "Wie kann es sein, dass Tim am Anfang so liebevoll war, obwohl er eigentlich ein Narzisst ist?". Die Antwort darauf ist love bombing. Love bombing ist eine Form der emotionalen Manipulation, bei der das Opfer zuerst mit Liebe und Zuneigung "bombardiert" wird, um es vom Täter anhängig zu machen und es dann zu manipulieren. Love bombing ist so intensiv, dass sich die Opfer fühlen als hätten sie den 6er in der Liebe gewonnen. Dieses Verhalten ist typisch für Narzissten.
Ihr fragt euch wahrscheinlich auch, warum Julia nicht einfach die Beziehung beendet hat. So leicht ist dass leider nicht. Durch die tägliche Unterdrückung sieht Julia ihren eigenen Wert nicht, sie denkt, dass sie es wohl verdient hat so behandelt zu werden weil Tim wohl irgendwo recht hat mit seinen Schuldzuweisungen. Außerdem ist Tims Verhalten ja gar nicht so schlimm, er handelt nur so, weil er Julia so sehr liebt, dass er sie auf ihre Fehler aufmerksam machen möchte (so denkt zumindest Julia). Julia hofft immer noch, dass es irgendwann wieder so wird wie am Anfang, dafür müsse sie sich nur genug anstrengen und genug investieren.
Das oben genannte Beispiel wirkt für uns als außenstehende Person sehr eindeutig. Aber der Prozess der Unterdrückung ist meist so schleichend und subtil, dass die Manipulation, die stattfindet, nur unterschwellig passiert. Julia ist schon Opfer der Manipulation, bevor sie überhaupt merkt manipuliert zu werden. Oft sind es auch Freunde oder Familienangehörige, die die Manipulation wahrnehmen, bevor es das Opfer tut.
Woher kommt der Narzissmus?
In meinem Fallbeispiel habe ich bewusst einem Mann die Rolle des Narzissten zugewiesen, da 50-75% der mit Narzissmus diagnostizierten Menschen Männer sind. Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass auch Frauen von Narzissmus betroffen sein können. Wie wird man zum Narzissten? Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Antwort auf diese Frage in der Kindheit des Narzissten zu finden ist. Nach Otto Kernberg (einer der führenden Forscher im Bereich der Persönlichkeitsstörung) kann Narzissmus auf emotionale Kälte der Eltern und einen aggressiven Erziehungsziel zurück geführt werden. Anders als man vielleicht annehmen könnte, haben Narzissten also ein sehr geringes Selbstwertgefühl, welches sie durch Machtdemonstrationen und das Überspitzen ihrer eigenen Persönlichkeit kompensieren wollen. Außerdem zeigen Zwillingsstudien, dass die Gene bei der Narzisstischen Persönlichkeitsstörungen einen größeren Einfluss haben, als bei anderen Persönlichkeitsstörungen.
Wie kann ich mir in oder aus der Beziehung mit einem Narzissten helfen?
Sobald du erkannt hast, dass du in einer toxischen Beziehung lebst und dein Partner/ deine Partnerin ein Narzisst ist, ist es leider zu spät, dir den Rat zu geben Warnzeichen ernst zu nehmen (das gilt aber für alle Menschen in einer Beziehung). Wir gehen jetzt mal von der Annahme aus, dass du über diesen Punkt hinaus bist.
In erster Linie hilft es immer, sich einen Ansprechpartner zu suchen, Freund/in, Therapeut/in etc. Da der Narzisst deine Grenzen, Bedürfnisse und Emotionen nicht erkennt, ist es deine Aufgabe, diese zu erkennen. Der Narzisst wird dein Wohlbefinden nicht beachten, also musst du es selbst umso mehr tun. Erkenne deinen Wert, egal ob du in der Beziehung bleiben möchtest, oder ihr entkommen willst. Nimm die Opferrolle, die der Narzisst dir zuteilt nicht an! Achte darauf, dass du dich nicht von deiner Familie und deinen Freunden abschottest- ein Narzisst ist sehr gut darin, dich zu isolieren, damit du dich nur seinen Bedürfnissen widmest. Auch wenn das sehr schwierig ist (deshalb brauchst du auch die Hilfe deiner Mitmenschen): Nimm die Schuldzuweisungen nicht persönlich, reflektiere, ob es wirklich deine Schuld ist oder dir das nur angehängt werden soll.
Lerne, die Reißleine zu ziehen wenn du emotional abhängig wirst, es ist keine Schande, sich Hilfe zu suchen.
Über toxische Beziehungen:
Bevor wir zum Ende kommen, möchte ich noch klarstellen, dass nicht jede toxische Beziehung einen Narzissten “beinhaltet”. Als toxische Beziehung kann eine Beziehung immer dann definiert werden, wenn sie Kraft und Glück raubt, anstatt diese Gefühle zu schenken. Man kann davon ausgehen, dass jede Beziehung mit einem Narzissten eine toxische Beziehung ist- aber nicht an jeder toxischen Beziehung muss ein Narzisst beteiligt sein. Welche Gründe es noch für toxische Beziehung gibt, werden wir in einem anderen Blogeintrag klären.
Abschließend möchte ich gerne noch das hier sagen: Auch, wenn die Belastung für Menschen aus dem näheren Umfeld sehr hoch ist, darf man nie vergessen das ein Narzisst psychisch krank ist und es eine Erklärung für sein Verhalten gibt. Das soll keine Rechtfertigung sein oder die Belastung der Opfer herunterspielen. Gerade weil die psychischen Folgen der Opfer so hoch sind, und viel zu viele Menschen in toxischen Beziehungen leben, schreibe ich diesen Artikel. Trotzdem ist das kein Grund, Hass etc. gegen Narzissten zu verbreiten. Im Prinzip, auch wenn Narzissten das nicht glauben, sind Narzissten psychisch kranke Menschen, die Hilfe in Form von Therapie brauchen. Wenn sie könnten, würden sie sich vermutlich auch anders verhalten, dazu fehlt ihnen halt das Wissen und das Eingeständnis über ihre eigene Krankheit und ihre Denkstrukturen.
Lasst mir bitte Feedback und konstruktive Kritik da. Schaut gerne auf Instagram bei @verkopftimkopf vorbei.
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