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Klinische Basics #3: Zwangsstörungen

Aktualisiert: 14. Juni 2021

von Paula Küppers


„Kannst du das bitte gerade hinlegen, das triggered mein OCD“ – „12 pictures that will satisfy the OCD in you“ – Wer kennt sie nicht, solche Sätze. Gerade im Zusammenhang mit „satisfying content“ (Stifte gerade hinlegen, Sachen perfekt nach Farbe sortieren usw.) begegnet mir im Alltag der Ausdruck „OCD“ ziemlich oft. Er steht für Obsessive-Compulsive-Disorder: Der englische Begriff für Zwangsstörung. Das klinische Krankheitsbild der Zwangsstörung unterscheidet sich aber, wie du dir wahrscheinlich schon denken kannst, extrem von dem Bild, das die Öffentlichkeit mit OCD verbindet.


Die Krankheit bedeutet nämlich nicht einfach nur, dass man Sachen gerne gerade hinlegt oder, wie bei der Serie „Monk“, ein paar lustige Macken hat. Betroffene verbringen meist mehrere Stunden am Tag mit Zwangshandlungen und können, wenn überhaupt, nur mit Mühe ein normales Leben führen. Sie sind davon überzeugt, dass sie ihre Zwangshandlungen ausführen müssen, weil sonst etwas Schlimmes passiert. Oder sie werden von ihren Zwangsgedanken so bedrängt, dass sie sich sogar in ihrem eigenen Kopf nach bestimmten Regeln richten müssen. Wenn du dir vorstellst, du wärst in einer Situation, in der du dich ganz genau an bestimmte Regeln halten musst, weil sonst zum Beispiel deine Familie stirbt, kannst du wahrscheinlich nachvollziehen, unter wie viel Druck die Betroffenen konstant stehen.


Zwangsgedanken vs -handlungen

Um zu verstehen, was eine Zwangsstörung ist, muss man erst einmal wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Bei den allermeisten Betroffenen treten diese zusammen auf. Bei Zwangsgedanken handelt es sich um angstbesetzte oder unangenehme Gedanken, Vorstellungen oder Bilder, die sich dem Betroffenen immer wieder aufdrängen- entweder spontan oder durch bestimmte Situationen ausgelöst. Inhalte der Zwangsgedanken können ganz individuell unterschiedlich sein- oft sind es Befürchtungen wie die Angst vor einem Unfall oder vor Keimen, oder aggressive Zwangsgedanken, bei denen sich Vorstellungen von Gewalt aufdrängen („Ich könnte jetzt ein Messer nehmen und alle umbringen“). Es gibt aber auch Zwangsgedanken ohne richtigen „Inhalt“, die eher als gedankliche Handlungen bezeichnet werden können. Das kann zum Beispiel ein Zwang sein, immer wieder über ein bestimmtes Thema nachzudenken, zu zählen oder zu beten.


Die Zwangshandlung wird oft als Reaktion auf einen Zwangsgedanken ausgeführt. Man sagt auch, dass Betroffene das unangenehme Gefühl, dass bei solchen Gedanken entsteht, durch die Zwangshandlung „neutralisieren“ wollen. Zwangshandlungen können zum Beispiel Händewaschen, den Herd Kontrollieren oder bestimmte Dinge berühren sein. Oder eben auch, Dinge zu ordnen oder ein Gleichgewicht herzustellen, wie man das vielleicht von besagten OCD-Instagram Posts kennt. Um sich das Ganze besser vorstellen zu können, hier ein Beispiel:


 

Fallbeispiel

Als Mika eines Tages aus dem Haus geht, denkt er plötzlich: „Was, wenn ich vergessen habe, den Herd abzustellen? Meine Wohnung könnte in Flammen aufgehen und alle Leute in meinem Haus werden wegen mir sterben. Das wäre schrecklich!“ Zur Sicherheit geht er deswegen noch einmal hinein und kontrolliert den Herd. Um sich ganz sicher zu sein, dreht er jeden Knopf einmal ganz auf und dann wieder zu. Sofort geht es ihm besser. Wenn er das Ritual nicht ausführt, fühlt er sich den ganzen Tag unsicher und muss daran denken, dass wegen ihm viele Leute sterben könnten. Eigentlich weiß Mika, dass es übertrieben ist, aber die Angst, was passieren könnte, würde er einmal nicht alle Knöpfe kontrollieren, ist zu groß. „Es ist bis jetzt kein Unglück passiert, nur weil ich immer den Herd kontrolliere“, sagt er sich. Ein bisschen stolz macht es ihn auch, dass er so verantwortungsbewusst ist.


Zwei Jahre später. Mika steht kurz davor, seinen Ausbildungsplatz in der Bank zu verlieren. Er kann zu oft nicht zur Arbeit kommen, weil er im Haus so viele Dinge kontrollieren muss: Alle Knöpfe vom Herd drehen, alle Lichter einmal an- und ausschalten, in alle Schränke schauen, ob dort nicht ein Feuer entstanden ist. Wenn er sich dabei ertappt, wie er mit den Gedanken abschweift, muss er alles noch einmal von vorne machen. Auch in der Bank kann er morgens erst mit dem Arbeiten anfangen, wenn er kontrolliert hat, dass alles wie immer ist. Abends bleibt er länger, um alle Lichter zu kontrollieren und die Gegend um die Mülleimer abzusuchen, damit nicht jemand auf liegengelassenen Obstschalen ausrutscht. „Wenn sich jemand verletzt, ist es meine Schuld“, denkt Mika. Den Weg zur Arbeit fährt er immer zweimal, damit er sich sicher sein kann, nicht unbemerkt jemanden überfahren zu haben. Seine Gedanken kreisen nur noch um mögliche Gefahren, die er aus dem Weg räumen muss. Wenn er seine Rituale ausführt, geht es ihm kurz besser.


Mittlerweile hat sich aber noch ein anderes Problem eingeschlichen: Mehrmals am Tag schießt ihm die Vorstellung durch den Kopf, er könnte absichtlich sein Haus in Brand stecken. Manchmal denkt er auch daran, dass er sich ein Messer nehmen könnte und alle Bewohner seines Hauses töten. Wenn er solche Gedanken bekommt, kriegt er Angst, dass er so etwas wirklich tun könnte, und fühlt sich wie ein Monster. Dann hilft nur noch eins: Um die Gedanken wieder gut zu machen, muss er dreimal das Vater unser sprechen. Außerdem hat er keine Messer mehr im Haus, aus Angst, was er damit machen könnte. Wenn er in einen Raum kommt, sucht er als erstes alles ab, damit nicht irgendwo ein Feuerzeug versteckt ist, das er benutzen könnte, um alles anzuzünden.


 

Dieses Beispiel ist natürlich ausgedacht, aber es zeigt typische Merkmale, wie ein Zwangsstörung entsteht und welche Mechanismen sie aufrechterhalten. Dabei ist aber auch wichtig: Zwangsstörungen und ihre Inhalte sind sehr individuell. Kontroll- und Waschzwänge kommen zwar häufig vor, aber im Prinzip kann jeder Gedanke zum Zwangsgedanken werden. Bei Mika ist der Zwangsgedanke die Vorstellung, er könnte eine Gefahr übersehen haben und wäre dann verantwortlich für den Tod anderer Menschen. Um diesen Gedanken zu neutralisieren, führt er die Zwangshandlung „kontrollieren“ aus. Am Ende kommen außerdem noch aggressive Zwangsgedanken hinzu („ich könnte alle abstechen“).


Vielleicht ist dir ja im ersten Teil von Mikas Geschichte etwas aufgefallen. Nochmal den Herd kontrollieren, obwohl man eigentlich sicher ist, dass er aus ist? Solche kleinen, „abergläubischen“ Angewohnheiten hat doch jeder! Vielleicht fühlst du dich auch unsicher, wenn du beim Abschließen nicht zweimal den Schlüssel rumdrehst oder wenn du eine Türklinke anpackst, ohne deinen Ärmel um die Hand zu wickeln. Gerade in Zeiten einer globalen Pandemie gibt es ja auch gute Gründe, Hygiene besonders ernst zu nehmen. Bei 20% der Erwachsenen klingt eine Zwangsstörung von alleine wieder ab, im jüngeren Alter sind es sogar 40%. Wie kommt es dann, dass Mikas kleine Angewohnheit zu einer Zwangsstörung wird, die ihn nur mit Mühe seinen Alltag bestreiten lässt?


Entstehung

Klar ist, dass manche Menschen anfälliger für eine Zwangsstörung sind als andere. Wie bei jeder psychischen Krankheit ist die Rolle, die die Gene dabei spielen, noch nicht komplett geklärt. Die Anfälligkeit kann auch mit der Erziehung zusammenhängen- wenn man zum Beispiel viel Kritik von seinen Eltern erfährt, kann es sein, dass man das Gefühl internalisiert, alles muss perfekt sein, ansonsten passiert etwas Schlimmes.


Wie die Zwangsstörung konkret entsteht, kann man am Beispiel von Mika ganz gut sehen. Der Knackpunkt dabei liegt nämlich in der Bewertung der „schlimmen Vorstellungen“. Mika denkt: „Wenn das Haus abbrennt, wäre das schrecklich, und ich wäre Schuld!“ Wenn sich dir oder mir so eine Vorstellung aufdrängen würde, würden wir wahrscheinlich auch denken „das wäre schlimm“, aber Mikas Bewertung ist viel katastrophaler.


Das liegt daran, dass Menschen mit Zwangsstörungen bei der Bewertung ihrer Gedanken oft typische Fehler machen: Sie schätzen Dinge als viel wahrscheinlicher ein, als sie eigentlich sind. Sie haben ein überhöhtes Verantwortungsgefühl und können Unsicherheit („ich weiß nicht genau, ob der Herd aus ist“) nur schlecht aushalten. Bei Mikas aggressiven Zwangsgedanken wird auch deutlich, dass Betroffene oft die Vorstellung haben, ihre Gedanken jederzeit kontrollieren zu müssen. Sie glauben, dass Gedachtes („Ich könnte alle umbringen“) automatisch dazu führt, dass man es auch wirklich macht.


Aufrechterhaltung

Die katastrophale Bewertung löst bei Mika natürlich Angst und Unbehagen aus. Um diese Gefühle zu neutralisieren, führt er die Zwangshandlung aus. Dann geht es Mika natürlich kurzfristig besser, weil die Angst erst einmal reduziert wird und er sich sogar stolz fühlt, so verantwortungsbewusst zu sein. Aber an dieser Stelle kommt die Konditionierung ins Spiel. Mika lernt dadurch: „Wenn ich den Herd kontrolliere, geht es mir gut.“ Das führt dazu, dass er sich die Handlung angewöhnt- wie bei einem Hund, der immer ein Leckerli bekommt, wenn er „Sitz“ macht, wird das Verhalten öfter ausgeführt, weil er dafür eine Belohnung bekommt (bei Mika ist die Belohnung das positive Gefühl und die Reduktion der Angst).


Viel schlimmer noch ist die Konditionierung in die andere Richtung: Da Mika anfängt, jedes Mal den Herd zu kontrollieren, kann er keine „korrigierende Erfahrung“ machen. Das heißt, er kann gar nicht lernen, dass nichts Schlimmes passiert, wenn er den Herd nicht kontrolliert. Deshalb erhöht sich Mikas Gefühl, für die Sicherheit seiner Mitmenschen verantwortlich zu sein. Er denkt quasi „Heute ist das Haus nur nicht in Flammen aufgegangen, weil ich den Herd kontrolliert habe“, und kann gar nicht merken, dass auch ansonsten nichts passiert wäre. Das heißt also: Auf kurze Sicht führt die Zwangshandlung dazu, dass es Mika besser geht. Langfristig verstärkt sich aber dadurch der Zwang und das Verantwortlichkeitsgefühl wird sogar erhöht.


Therapie

Das heißt also: Wenn du einen abergläubischen „Tick“ hast, macht es Sinn, wenn du ihn einmal nicht ausführst und schaust, was passiert. Die Unsicherheit, die dadurch entsteht, musst du aushalten, denn langfristig lernst du, dass niemand tot umfällt, wenn du vergisst, die Türklinke mit dem Ärmel anzupacken. Genau so funktioniert auch die Therapie der Zwangsstörung: Natürlich wird auf der einen Seite über die Entstehung des Zwangs geredet, Erlebnisse aufgearbeitet, die damit zusammenhängen und die dysfunktionale Bewertung der Gedanken (s.o.) hinterfragt. Ein ganz wichtiger Bestandteil ist aber auch die Konfrontation mit Reaktionsverhinderung. Bei Mika wäre das zum Beispiel, aus dem Haus zu gehen, ohne den Herd zu kontrollieren. Das Unbehagen, das er dabei empfindet, geht nach einiger Zeit ganz von alleine weg- der Körper ist nämlich physisch gar nicht dazu in der Lage, über einen längeren Zeitraum so starke Angst zu empfinden. Bei 90% der Betroffenen führt diese Therapie zu einer deutlichen Besserung, und das Gute ist, dass man sie auch ganz gut ohne Therapeuten zu Hause machen kann.


Zwangsgedanken

Bei den Zwangsgedanken ist die Entstehung ein bisschen anders, als bei den Zwangshandlungen. Erstmal vorweg: Wenn Mika die Vorstellung hat, er könnte ein Messer nehmen und alle töten, ist ganz wichtig, zu wissen, dass er das niemals tun würde. Die Zwangsgedanken, die Betroffene bedrängen, stehen fast immer in krassem Kontrast zu ihrer eigentlichen Persönlichkeit. Deshalb sind die Zwangsgedanken für sie auch so schlimm. Und genau das trägt dazu bei, dass ihnen der Gedanke immer wieder kommt.


Wie Nele schon im Artikel über thought-action-fusion erklärt hat, sind spontan auftretende, komische Gedanken oder Vorstellungen (= Intrusionen) ganz normal- wer kennt es nicht, an einer Klippe zu stehen und zu denken „ich könnte jetzt einfach runterspringen“, ohne es wirklich zu wollen. Wieder ist das, was eine Intrusion zum Zwangsgedanken macht, die Bewertung. Für einen sehr kinderlieben Menschen wäre es zum Beispiel katastrophal, plötzlich eine Intrusion über Pädophilie zu bekommen- „Wie kann ich an so etwas Schlimmes denken, ich muss ein Monster sein, so etwas darf ich nie wieder denken“ usw.


Merkst du was? Wenn ich dir jetzt sage: „Denke nicht an einen pinken Elefanten“, welches Bild hast du dann im Kopf? Richtig. Genau so funktioniert es auch bei den Zwangsgedanken. Der Versuch, die Vorstellung zu unterdrücken, führt dazu, dass sie einen immer mehr bedrängt. Man kann nämlich nicht kontrollieren, was man denkt. Wie bei einem Ball, den man unter Wasser hält, springt das Bild immer höher, je tiefer man es herunterdrücken will. Ganz wichtig ist dabei aber: Mika will nicht das Haus abfackeln und der kinderliebe Mensch will sich nicht an Kindern vergehen und würde das niemals tun. Aber sie denken, dass sie es wollen, weil sie nicht wissen, dass Intrusionen ganz normal sind.


Was kannst du tun?

So, wir sind schon fast am Ende, aber mir ist eine Sache noch persönlich wichtig, zu sagen. Da jeder ein paar schrullige Angewohnheiten oder abergläubische Rituale hat, werden Zwänge in den Medien oft als etwas Lustiges dargestellt. Für Betroffene ist diese Krankheit aber überhaupt nicht lustig- man kann sich vorstellen, wie belastend es sein muss, in einem selbstgemachten Gefängnis von Regeln zu leben, und jeden Tag mehrere Stunden mit Zwangshandlungen verbringt. Auch weil die Zwangsstörung oft verharmlost wird, brauchen Betroffene sehr lange, um den Weg zum Arzt zu finden- im Durchschnitt mehr als neun Jahre! Das finde ich besonders schlimm, weil die Störung gute Heilungschancen hat und ein frühes Eingreifen das Rückfallrisiko extrem minimiert. Solltest du also jemanden kennen, bei dem du das Gefühl hast, seine Angewohnheiten sind zum Zwang geworden- sprich mit ihm, sag ihm, dass die Störung recht häufig vorkommt und gut zu therapieren ist. Allein das Gefühl, nicht allein zu sein, kann manchmal schon helfen.


So, das waren auch schon die Basics, die man über Zwangsstörungen wissen muss- von der Entstehung bis zur Therapie. Für mich war es ganz schön schwierig, das alles in einem Artikel zusammenzufassen, der dann ja auch noch interessant zu lesen sein soll. Außerdem gibt es noch viele Sachen, die in diesem Blogeintrag jetzt gar nicht erwähnt wurden, zum Beispiel andere Krankheiten, die ins Zwangsspektrum fallen, wie die Trichotillomanie oder die Körperdysmorphe Störung. Nele und ich haben deshalb überlegt, zu dem Thema noch einen Teil 2 zu posten. Schreibt uns doch gerne mal bei Instagram, was ihr dazu denkt. Bis dahin: Bleibt entspannt und glaubt nicht alles, was ihr denkt :)



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