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Bin ich ein Monster?

Aktualisiert: 14. Juni 2021

von Nele Franzen


Ich war 15 Jahre alt als ich mit meiner Mutter im Auto saß, auf dem Weg zu irgendeinem Termin. Ich war schlecht gelaunt, weil wir uns kurz vorher "mal wieder" gestritten hatten. Es war ein verregneter Tag und ich habe aus dem Fenster geschaut, mein Blick auf die am Straßenrand stehenden Bäume gerichtet. Da war er, der Gedanke: "Wenn ich Mama jetzt ins Lenkrad greife, fährt sie vor einen Baum und wir sind beide tot." Sofort bemerkte ich wie in mir Panik entstand. Mein Kopf wurde mit Fragen bombardiert. "Was stimmt mit mir nicht?", "Will ich, dass meine Mutter stirbt?" "Will ich sterben?" "Bin ich krank?" "Bin ich ein Monster?". Das Resultat, das ich aus meinen Gedanken schloss: "Ich muss ein Monster sein. Es geht nicht anders. Niemand hat so schreckliche Gedanken und stellt sich vor, mit seiner eigenen Mutter vor einen Baum zu fahren".


In der Psychologie wird vom Thought-Action-Fusion Bias gesprochen (die Verschmelzung von Gedanken und Taten). Man denkt etwas, und der Gedanke ist so intensiv und angsteinflößend, dass man das Gefühl hat, den Gedanken gelebt zu haben. Viele Leute glauben, solche schrecklichen Gedanken spiegeln Wünsche wieder, die man unbewusst in sich hat. Klar, dass man da das Gefühl hat, man wäre ein Monster.


Ich versuche euch es an einem typischen Beispiel zu erklären: Du stehst im Badezimmer und putzt dir die Zähne, deine Mama kommt dazu und lässt sich Badewasser ein. Ihr redet über euren Tag. Durch den Spiegel siehst du, dass der Föhn neben der Badewanne liegt. Du denkst "Wenn ich den Föhn jetzt berühre und er ins Badewasser fällt, bekommt meine Mama einen elektrischen Schlag und stirbt". Danach fühlst du dich voller Scham, Schuld, beängstig von den eigenen Gedanken.


Der bloße Gedanke daran, so etwas Schlimmes zu tun, verleitet Menschen dazu , das Gedachte mit der Handlung gleichzusetzen. Dadurch entstehen Ängste, Scham und Verunsicherungen.


Aber ich kann euch beruhigen: Es ist etwas total Normales, Sachen, die man selbst als beunruhigend empfindet, zu denken. Denken und Handeln ist nicht dasselbe. Denken ist ein kognitiver Prozess und Handeln ein physischer Prozess - also zwei von Grund auf unterschiedliche Dinge. Wir Menschen sind die intelligenteste Spezies, die es auf der Erde gibt, wir können uns nicht nur Gedanken machen, sondern wir können uns auch Gedanken über unsere Gedanken machen. Deshalb es ist völlig in Ordnung, zu denken, du könntest den Föhn ins Badewasser werfen, denn das heißt nicht, dass du es auch wirklich tun willst. Denken und Wollen ist nicht dasselbe, du darfst etwas denken, ohne es zu wollen.


Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Kind oft schlimme Gedanken hatte und mich danach dafür geschämt habe. Meistens sind die Gedanken und die daraus resultierenden Gefühle relativ schnell verfolgen, aber ich habe sie nie ganz aus meinem Gedächtnis gelöscht. Ich wünschte, jemand hätte mir als Kind gesagt, dass nur weil ich denke, dass ich meinen Bruder vom Hochbett schubse, ich ihn nicht wirklich geschubst habe und es auch nicht bedeutet, dass ich ihn schupsen möchte. Deshalb auch kein Grund für Scham. Es war in meinem ersten Jahr im Psychologie Studium, als ich das erste Mal vom Thought-Action-Fusion Bias gelesen habe, und ich mir endlich endgültig beantworten durfte, dass ich kein Monster bin.


Ich hoffe, jeder der diesen Blogeintrag liest, und sich schon immer gefragt hat: "Warum denke ich sowas" - jetzt einen kleinen Aha-Moment hatte. Übrigens ist es wissenschaftlich erwiesen, dass man nach solchen negativen Gedanken weniger Schuld, Scham, Verantwortung und Angst spürt, wenn man weiß, dass Gedanken und Handeln nicht gleich zu setzen sind. Dadurch entstehen weniger Thought-Action-Fusion Biases. Was könnt ihr tun? Ganz einfach: informiert, erklärt euren in der Zukunft existierenden Kindern, dass es den Thought-Action-Fusion Bias gibt. Lasst mich gerne wissen, ob ihr bereits vom Thought-Action-Fusion Bias gehört habt, ihr sowas auch schon erlebt habt, und wenn ja, wie ihr damit umgegangen seid.


Zu den Schattenseiten (war ja klar, dass es welche gibt): Es gibt psychische Krankheiten, in denen solche schlimmen Gedanken und das schlechte Gewissen, das man danach hat nicht, wie bei mir, von alleine weggehen, sondern bleiben - sich im Gedächtnis von Betroffenen einnisten. Wenn Gedanken zur Obsession (eine mit Furcht verbundene Zwangsvorstellung oder Handlung) werden, kann sich daraus eine Zwangsstörung entwickeln. In unserer Reihe #Krankheiten werden wir in den nächsten Wochen noch mehr erklären, wie Zwangsstörungen mit dem Thought-Action-Fusion Bias zusammenhängen.




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